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Walter & Marianne Kaiser-Bingel

Europameisterschaft in den Standardtänzen in Zürich

Interview mit dem Organisator Walter Kaiser


Tele, 27. Mai 1971

Tanzen - fast eine Wissenschaft

Deutschschweiz
Samstag, 5. Juni
22.00 - 23.10 Uhr

Tanz als menschliches Bedürfnis und als Anliegen aller Zeiten war früher als Gesellschaftstanz der herrschenden Schicht vorbehalten und unterschied sich wesentlich vom Volkstanz. In letzter Zeit, in der Epoche der Demokratien, ist der Tanz in eine einzige Form verschmolzen: heute ist er ein gesellschaftliches Vergnügen aller.

Gesellschaftstänze werden heute an Wettbewerben in zwei Kategorien eingeteilt: Standardtänze, wie English Waltz, Tango, Wiener Walzer, Slow Foxtrott und Quickstep, die englische Tanztradition verkörpern. Der Wiener Walzer ist eine Verfeinerung des ursprünglich deutschen Walzers, des gemütvollen Ländlers. Der Tango schliesslich hat sich als fünfter Standardtanz aus der kubanischen Milonga entwickelt, wurde von Paris übernommen und schliesslich von den Engländern geformt und standardisiert.

Fragen und Diskussionen erhitzen heute die Sachverständigen des Gesellschaftstanzes auf der ganzen Welt, England und Deutschland als führende Tanznationen haben ihrer Mentalität entsprechend andere Auffassungen über den Gesellschaftstanz der Zukunft: Während für die Engländer der Tanz mehr Kunst als Sport ist, betrachten ihn die Deutschen als Sport. Der deutsche Sportbund unterstützt den Gesellschaftstanz grosszügig und möchte ihn ins Programm der olympischen Disziplinen aufnehmen.

Dazu äussert sich der bekannteste Schweizer Fachmann, der ehemalige Welt- und Europameister Walter Kaiser, Mitglied vieler internationaler Schiedsgerichte und Leiter einer eigenen Tanzschule in Zürich, in einem Interview mit Tele:

Tele: Herr Kaiser, Sie organisieren die diesjährige Europameisterschaft in den Standardtänzen. Nach welchen Gesichtspunkten werden die Tanzpaare bei einem Turnier bewertet?

Kaiser: Bei unserer P r o f i - Europameisterschaft in Zürich werden sieben Wertungsrichter - zum Teil ehemalige Welt- und Europameister - fungieren. Sie werten nach folgenden Gesichtspunkten:

1. Technik. Jeder Tanz ist choreographisch in der Grundstruktur genau festgelegt. Dazu gehören: Fussarbeit (Tanzschritt auf Fersen oder Ballen), Senken und Erheben des Tanzpaares (z.B. das kontinuierliche Erheben bei einem English Waltz), Drehzahl (Über- oder Unterdrehen des Bewegungsablaufs), Fussposition (es gibt bei jedem Partner 16 verschiedene Fusspositionen).

2. Choreographie: Aufbau des Tanzes auf der Grundlage der festgelegten Figuren unter Einbeziehung individueller, zusammen mit dem Trainer einstudierter Variationen.

3. Raumeinteilung. Jedes Tanzpaar "kämpft" um seinen Platz auf der Tanzfläche, auf welcher sich ja noch andere Tanzpaare befinden. Es muss also dann eine vorgesehene Figur tanzen, wenn es sieht, dass es genügend Platz dazu hat. Somit kann es nicht einen sturen, genau vorgeplanten Ablauf seiner Kür einhalten (wie etwa Eiskunstläufer).

4. Rhythmus des Tanzpaares und Einhaltung der Charakteristik der verschiedenen Tänze.

5. Kunst der Bewegung. Pose, Haltung, Neigung in den Drehungen, Weichheit und Fluss in der Bewegung, Gesamteindruck, Ausstrahlung und Harmonie.

Da die subjektive Einstellung des Wertungsrichters bei der Wertung mitspielt, kommt es trotz dieser Bewertungsskala immer wieder zu Divergenzen unter den Juroren, weil der eine vielleicht die Technik, ein anderer etwa die Choreographie und ein dritter den Rhythmus des Tanzpaares höher oder niedriger bewertet.

Tele: Wäre es für einen Fachmann möglich, am Bildschirm Turniere zu bewerten?

Kaiser: Nein. Der Wertungsrichter muss ein Paar über eine länger Phase hinweg verfolgen können. Am Bildschirm dagegen sieht man nur immer einzelne Ausschnitte, oft sogar nur die Gesichter oder die Füsse eines Paares. Dazu kommt, das der Wertungsrichter ein ganzes Turnier (Vorrunden, Zwischenrunde, Final) verfolgt, während der TV-Zuschauer meist nur den Final sieht. Dies bedeutet, dass der Juror ein Tanzpaar während zwei bis drei Stunden beobachten kann.

Tele: In Zürich findet ein Profi-Tanzturnier statt. Können Sie uns den Unterschied zwischen Professional- und Amateurtanzpaaren erklären?

Kaiser: Ein Amateurtanzpaar übt das Tanzen als reines Hobby aus und darf - oder soll - damit kein Geld verdienen. Ein aktives Profi-Tanzpaar lebt vom Tanzen. Ein Spitzenpaar kann sogar sehr gut davon leben, indem es im Jahr etwa an dreissig Turnieren teilnimmt, pro Monat etwa 25 Tanzdemonstrationen absolviert und an Fachtagungen in der ganzen Welt eingeladen wird - dies alles gegen Honorierung. Damit kann ein solches Spitzenpaar eine sechsstellige Summe pro Jahr verdienen.

Tele: Wieso haben selbst die besten Profi-Tanzpaare noch Trainer?

Kaiser: Trotz vielen Hilfsmitteln, wie Spiegel, Filmaufnahmen, ist es nicht möglich, sich selber richtig zu kontrollieren. Alle Spitzenpaare nehmen deshalb regelmässig Unterricht bei den weltbesten Trainern, die alle in London sitzen.

Tele: Sie waren 1965 selbst Welt- und Europameister. Wie wird man das?

Kaiser: Zuerst braucht es eine gewisse Begabung. Danach muss man hart trainieren, viele Entbehrungen auf sich nehmen und den Ehrgeiz haben, an die Spitze zu kommen. Wenn zu all dem noch das Glück lächelt, dann kann man Weltmeister werden - oder auch nicht.






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