Walter & Marianne Kaiser
Das „lateinamerikanische“ Kaiserpaar
Schweizer Illustrierte Nr. 31, 27. Juli 1964, Seite 20
(Interne Info: Doppelseite A3 in zwei Bilderrahmen)
Zwei junge Zürcher in der Weltelite des Turniertanzes
Walter Kaiser hatte schon immer Freude am Tanzen gehabt. Um dieses Hobby aber in einen Beruf zu verwandeln, fehlte ihm lange Zeit das Wichtigste: die geeignete Partnerin. Im Jahre 1958 hatte er endlich Glück. Er lernte seine Frau Marianne, eine gebürtige Österreicherin, kennen, und 1959 eröffnete das Ehepaar seine noch heute bestehende Tanzschule. Jetzt konnte Walter Kaiser seinen Traum verwirklichen. Nicht nur tanzbeflissene Privatleute wurden in dieser Kunst unterwiesen, auch an sich selbst begannen die Kaisers zu arbeiten. Sie übten für Tanzturniere! Und siehe da, schon nach einem Jahr, 1960, tanzten sie an einem Turnier, ein Jahr darauf kamen sie in den Halbfinal und seit 1962 sind sie immer im Final der grossen internationalen Tanzturniere gewesen. Von Wettbewerb zu Wettbewerb arbeiteten sie sich immer um eine ganze Stufe hinauf. Ohne es zu wollen, entwickelten sie sich dabei unversehens zu Spezialisten in den lateinamerikanischen Tänzen, bei denen es mehr auf den Rhythmus als auf die Bewegung ankommt. Marianne Kaisers zierliches Tanagrafigürchen ist wie geschaffen für Samba und Paso Doble, und Walter Kaiser liegt der Rhythmus im Blut. Trotzdem ziehen die beiden nach wie vor die klassischen Standardtänze vor. Doch die Entscheidung wurde ihnen buchstäblich aus den Händen, oder vielmehr unter den Füssen weggenommen. Sie gelten heute als „lateinamerikanische Kaiser“. Marianne Kaisers Augen bekommen einen geradezu verträumten Ausdruck und Sehnsucht klingt in ihrer Stimme mit, wenn sie vom Standardtanz spricht. „Die klassischen Tänze sind doch ganz etwas anderes! Ein schöner English Waltz ist einfach herrlich. Und schon das Dekor ist viel feierlicher, die Herren tragen alle Frack...“ Ihr Blick bleibt dabei auf einer lebensgrossen Fotos an der Wand ihres Tanzstudios hänge, auf der das Paar für alle Zeiten mit schwingendem Tüllrock und flatternden Frackschössen in einer Standardfigur festgehalten ist.
Diesen Frühling nahm die Karriere der Kaisers einen gewaltigen Schritt nach vorn. Am "Grossen Preis von Europa" in München wurden sie Zweite in den lateinamerikanischen Tänzen, und anfangs Mai belegten sie an den Weltmeisterschaften in Berlin den dritten Platz. Schon vier Tage später erlebten sie in England den Triumph, mit nur englischen Schiedsrichtern das englische Paar zu schlagen, das vor ihnen im Klassement gelegen war.
Frau Kaiser wird in Fachzeitschriften für ihre „gepflegte gesellschaftliche Aufmachung“ gerühmt. Wir fragten die zierliche, dunkelhaarige, junge Frau, wer ihre schönen Kleider anfertige, und erfuhren zu unserem grossen Erstaunen, dass sie neben ihrer Lehrtätigkeit noch Zeit findet, sie selbst zu nähen. Sie hat sich erst eines von einer Schneiderin machen lassen, und auch das nur, „weil diese so gern einmal wollte“. Sie lacht gerne, die sympathische junge Frau, und ihr Mann scheint ständig eine unsichtbare Musik zu hören. Er ist stets in Bewegung, wie wenn er sich schon wieder die nächste Tanzfigur ausdenken würde.
Marianne und Walter Kaiser geben zu, dass sie viel zu wenig trainieren. Man sollte eigentlich mindestens zwei Stunden im Tag üben, doch bleibt ihnen dafür durch ihre Tanzschule oft keine Zeit. Sie sind auch durch die Lehrtätigkeit immer „mitten drin“, und sie wollen nicht so weit kommen wie andere Turniertänzer, die sich nicht einmal mehr Ferien gönnen. Ihre Tanzschule beherbergt jetzt oft nicht bloss junge Leute und ältere Paare, die sich in den neuesten Modetänzen unterweisen lassen wollen („Jede neue Verrücktheit, die sich nur kurze Zeit hält, machen wir aber nicht mit!“), sondern auch Meisterschüler aus Deutschland, Teilnehmer kleinerer Turniere, die sich bei den Spezialisten perfektionieren wollen. Neuerdings werden die lateinamerikanischen Vizeeuropameister bei Fachlehrertagungen zugezogen, um den Berufskollegen „Latins“ beizubringen. Die Tanzpädagogik ist es denn auch, die Walter Kaiser am meisten am Herzen liegt. Er spielt mit dem Gedanken, eines Tages die Turniere aufzugeben, um sich nur noch auf die Schule zu konzentrieren. Aber in diesem Moment, da die Tür zum Weltruhm auf ihrem Gebiete weit offen steht, wäre es natürlich schade, den Meisterschaften zu entsagen.
„Welches Gefühl hat man beim feierlichen Einmarsch in einen Saal, in dem sich noch viele andere Paare befinden, gegen die man gleich ein Turnier wird austragen müssen?“ fragen wir das Kaiserpaar. „Zuallererst schauen wir uns den Boden an. Ein gutgepflegtes Parkett, auf dem sich die Dame mühelos drehen kann, ist sehr wichtig. Dann horchen wir auf die Musik. Von der Band sind wir stärker abhängig als von den Jurymitgliedern! Auch auf die Atmosphäre im Saal kommt es an. Nein, untereinander fechten die Turnierteilnehmer natürlich keine kleinlichen Fehden aus! Und da wir jetzt schon an so vielen Meisterschaften getanzt haben, ist unser Lampenfieber praktisch weg.“
Marianne und Walter Kaiser sind den schweizerischen Fernsehern gut bekannt. Im Tanzkurs „Darf ich bitten?“ unterrichten sie eine Reihe ganz verschiedener Leute im Studio unter den „Augen“ der Kameras. Wiedersehen konnten die Fernseher mit den Kaisers am 4. Juli feiern, denn da wurden die Darbietungen des grossen Sommernachtsballs der Tanzschule (jedes Jahr findet ein solcher Ball statt) als internationale Tanzparty vom Fernsehen übertragen. Obwohl dieser Ball viel Vorbereitungsarbeit erforderte – es mussten unzählige Einladungen verschickt werden – freuten sich die Veranstalter auf dieses Fest.
Bevor wir uns verabschiedeten, stellten wir dem Paar noch eine letzte Frage: „Sagen Sie, gehen Sie eigentlich auch noch tanzen wie ‚gewöhnlich Sterbliche’, d.h. abends mal ins Dancing oder so?“ Marianne lacht, „Ich ginge ja schon gern, aber mein Mann kann einfach nicht. Wer tagsüber so viel mit Tanz zu tun hat, ruht abends gern aus.“
So hat die urdemokratische Schweiz doch ein Kaiserpaar – ein sehr graziöses übrigens. - G.B.