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Walter & Marianne Kaiser-Bingel

"Cha-Cha-Cha – zwei - drei!"


Brückenbauer November 1973
(Auflage: 664'000 Exemplare!)

Reportage von K. Ulrich

In den Dancings flackern gleissende Stroboscop-Blitze, kreisen farbige Scheinwerfer und jagen versteckte Projektoren Farbdias auf Leinwände. Ranke Gogo-Girls schlenkern sich ekstatisch, clevere Discjockeys füttern überdimensionierte Tonboxen mit dezibelreichem Beat, und auf beängstigend engem Raum drängt sich – zwanglos gekleidet – ein vorwiegend jugendliches Publikum, das sich gekonnt lässig und scheinbar lustlos im Beat-Rhythmus bewegt. Sogar auf renommierten Bällen versuchen graumelierte Herren mit ihren dekolletierten Begleiterinnen angestrengt die Nonchalance der Jugend zu imitieren.

Kein Zweifel: Mit dem musikalischen und tänzerischen Eintopfgericht Bum-Bum-Beat ist man „in“. Sind somit rhythmische Varianten und traditionsreiche Tänze „out“? Hans-George Schnitzer, Sprecher des „Allgemeinen Deutschen Tanzlehrerverbandes“ (ADTV) ist gegenteiliger Ansicht, er formuliert forsch: „Der Beat ist längst tot“; ADTV-Präsident Gerd Hädrich jubelt: „Tanzen war noch nie so populär“, und eine unlängst durchgeführte Umfrage erkor den schon bald ehrwürdigen Cha Cha Cha (Geburtsjahr 1957) zum absoluten Tanzfavoriten bei jung und alt.

Privat-Parties als Dancing-Ersatz
Eine Mittelposition zwischen „Beat, Beat and Beat again“ – Diktatur und verstaubter Tanzturnier-Romantik wird der Wirklichkeit gerechter. Denn: Ob langhaarig und jung oder angegraut und bejahrt – man liebt heute immer noch die Standardtänze von gestern: Foxtrott und Blues, Tango und Rumba, Wiener Walzer und English Waltz. Aber die Tanzwilligen meiden gezwungenermassen die auf Beat abonnierten, unter Platznot leidenden Dancings und ziehen sich auf private Veranstaltungen und eigens organisierte Parties zurück.

Walter Kaiser – 1965 Weltmeister in den Lateinamerikanischen Tänzen – differenziert: „Was da in Deutschland alles über die Renaissance des Gesellschaftstanzes gesagt und geschrieben wird, tönt wohl sehr schön. Aber in Wirklichkeit hat er gar nie an Popularität verloren.“ Der Ex-Weltmeister muss es wissen. Er leitet mit Gattin Marianne nicht nur die grösste Tanzschule der Schweiz und die Zürcher Klubschul-Tanzkurse, sondern er schickt auch seine Mitarbeiter in firmeneigenen Wagen und mit mobilen Stereoanlagen los, um in anderen Städten Tanzunterricht zu geben.

Wohl sind – so Walter Kaiser – „in den fünfziger Jahren zahlreiche Tanzschulen eingegangen, weil sie sich geweigert haben, modische und musikalische Strömungen zu akzeptieren“, aber heute nimmt – so Marianne Kaiser – „fast jeder Zürcher Mittelschüler einen Tanzkurs.“ Allerdings: das altvertraute Tanzstundenbild mit aufgeregten Jünglingen in Konfirmationskluft und schüchternen Backfischen im Sonntagskleid, die sich fast feindlich auf langen Stuhlreihen gegenübersitzen, ist passé. Man kommt salopp, gibt sich leger. Die Boys krawattenlos, langhaarig und Kaugummi beissend, die Girls in Jeans, Pulli und auf handbreiten Schuhsohlen. Der Tanzlehrer ist kaum von den Kursteilnehmern zu unterscheiden, er bedient wie ein Diskjockey die üppig ausgestattete Stereoanlage und gibt die Anweisungen über Mikrophon: „Cha Cha Cha – zwei - drei!“

Auf sein „Meine Herren, engagieren“ hin versuchen sich die Teens etwas ratlos am Wiener Walzer, schlaksig am English Waltz und ausgelassen an der Polka. Erklärter Lieblingstanz ist indes der figurenreiche Rock’n’Roll (Geburtsjahr 1956).

Die Teens finden’s „lässig“
Aufschlussreich sind die Antworten von Zürcher Mittelschülern auf die Frage: „Warum gehst du in den Tanzkurs?“ – „Immer nur beaten ist langweilig“, „In der Alphütte möchte ich auch mal nach einem ‚Hudigäggeler’ tanzen“ oder „Mit einem guten Rock’n’Roll kann ich imponieren.“ Kurz: Die Teens haben ihren „Plausch“ und finden’s „lässig“. Der Muff der Tanzstunde alten Stils ist weggeblasen, auf Etikette legt man nur geringen Wert (Walter Kaiser: „Die Spielregeln werden bloss am Rand behandelt.“) – nur Mauerblümchenprobleme gibt’s noch immer.

In Kaisers Lokalen treffen sich aber auch regelmässig „Middle Age“-Paare, um einen Abend lang Tango- oder Rumba-Schritte aufzupolieren. Sie kommen – teilweise seit über sechs Jahren und von weit her – aus unterschiedlichen Beweggründen: „Wir suchen gesellschaftlichen Anschluss“, „Für mich eine Art Fitness-Programm“ oder „Wo kann man sonst noch richtig tanzen?“ Wieder anders motiviert rücken Ärztegesellschaften und Kaderleute grosser Firmen in den Tanz-WK ein: Sie planen beispielsweise eine gemeinsame Kreuzfahrt, möchten auf dem schwimmenden Tanzparkett eine gute Figur abgeben und lassen sich daher vorsorglich auf Hochform trimmen.

Das Interesse am Gesellschaftstanz ist offensichtlich bei alt und jung vorhanden. Allein Walter Kaiser und seine sechs Mitarbeiter unterrichten jährlich „zigtausend“ Schüler in ihrem Tanzstundendeutsch: „Schnell – Schnell – Langsam – Once Again.“ Die Dancings verschliessen sich indes dieser Tatsache, der Ex-Weltmeister erkannte: „Man darf nicht nur das Tanzen lernen, sondern muss auch den Rahmen dazu bieten. Die Dancings wollen alle „in“ sein, sie bieten aber oft nur schlechte Luft, laute Musik und kleine Tanzflächen. Eigentlich erstaunlich, dass es keine Alternative gibt. Ein richtiges Tanzlokal, das wäre doch das grosse Geschäft.“

Walter Kaiser hat die Marktlücke längst geschlossen: Jeden Samstag und Sonntag veranstaltet er in seinen Schulräumen Tanzparties, die von 150 bis 200 Interessenten besucht werden, aber auch unter der Woche treffen sich bei ihm Dutzende tanzfreudiger Paare zu den Klängen von Max Greger und Hugo Strasser. Jüngere tanzen Rock’n’Roll und Rumba, trinken Coca aus Automaten und sehen sich – auf dem Boden sitzend – Micky-Mouse-Filme an. Älteren bietet sich endlich die Gelegenheit, mit raumgreifenden Schritten Samba- und Walzer-Figuren zu üben.

Der Satz „Der Walzer ist tot; Friede seiner Asche“ stimmt sicherlich nicht. Auch wenn er bereits im Jahre 1922 im „Neuen Tanzbrevier“ stand.



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