Marianne Kaiser-Bingel
Porträt von Marianne Kaiser
PROFESSIONNELLE, das Business-Magazin für die Frau, April 1991
Dort wo die Heinrichstrasse am Escher-Wyss-Platz ankommt, ist auf dem ehemaligen Fabrikareal der Waschmittelfabrik Steinfels ein originelles Dance-Center entstanden. Die drei grossen Räume im ersten Stock hat Marianne Kaiser seit Januar 1990 gemietet. Immer dann, wenn die meisten Menschen in den Feierabend starten, beginnt sie in ihrer Dance-Loft mit dem Unterricht. Fünfundzwanzig Jahre Leben für Tanz und Musik bedeuten auch über zwei Jahrzehnte Erfahrungen, Erfolge und auch Rückschläge. Trotz allem lässt sich die heute Fünfundvierzigjährige nicht entmutigen, frei nach dem Motto:
DAS TANZEN IST DER KAISERIN LUST
Von der Decke des grossen Saals beleuchten nur ein paar Spots die erwartungsvollen Gesichter der leger gekleideten Paare. An diesem Abend sind sie alle so zwischen zwanzig und dreissig. Der Plattenspieler schwebt irgendwo im Raum, getragen von langen Seilen, an deren Ende sich ein Federzug befindet, damit die Nadel nicht bei jedem schwungvollen Cha-Cha-Cha ins Leere rutscht. Mitten im Raum steht Marianne Kaiser. Eine sehr schlanke, grosse Frau ist sie und besonders gut aussehend. Sie trägt eine schmale schwarze Steghose, darüber einen gelben Pullover mit einem kleinen Stehkragen. Wieder darüber betont ein schwarzer Blazer, an dessen Revers eine Mickey-Mouse-Figur fröhlich schlenkert, ihre schlanke Silhouette.
Marianne Kaiser hat ihr Hobby zum Beruf gemacht. Dem 1945 in Kilchberg geborenen "Nachkriegskind" war es eigentlich nicht in die Wiege gesungen, dass einmal der Tanz zum Mittelpunkt ihres Lebens werden sollte. "Erst mal was Richtiges" lernen. Welcher junge Mensch mit Ambitionen für einen künstlerischen Beruf hat diesen Satz nicht irgendwann einmal gehört. Auch Marianne Kaiser blieb davon nicht verschont. "Was Richtiges" hiess für die 15jährige Besuch der Sekundarschule in Kilchberg. Das waren Zukunftsaussichten, die sie wenig begeisterten. Marianne Kaiser erinnert sich nicht besonders gerne an dieses elterliche Votum, denn sie habe unter der kaufmännischen Lehre sehr gelitten. Und sie lacht wieder, wenn sie erzählt, dass sie trotzdem ein Diplom bekommen habe. "Und das war gar nicht so schlecht. Doch frage ich mich manchmal, ob da nicht irgend jemand meine Noten verwechselt hat."
Schon während der kaufmännischen Lehre liess sie sich im Turniertanz ausbilden, und war zu dieser Zeit Mitglied der Nationalmannschaft der Turniertänzer und Vize-Schweizermeisterin. "Ich habe jede freie Minute getanzt", erinnert sie sich amüsiert, "und nie Aufgaben gemacht. Wirklich komisch, dass ich nicht durchgefallen bin". Im Clublokal konnte sie über Mittag trainieren und abends Tanzunterricht nehmen. Und das war ihre "Backfischzeit".
KEIN FALL FÜR DEN TURNIERTANZ
Kontakt mit Menschen. Dieser Wunsch, der heute in vielen Bewerbungsschreiben grosse Priorität hat, war wohl auch der Grund, dass Marianne Kaiser schnell erkannte, dass das selektive "einstudierte Tanzen auf dem Sportsektor", wie sie den Turniertanz nennt, nicht ihre Welt sein würde. Beim Zuschauen an einem Kaiser-Tanzunterricht wird einem auch schnell klar, warum. Der manchmal hautenge Kontakt mit ihren Schülerinnen und Schülern ist ihr wichtig. Mal heisst das, einen noch unsicheren Tänzer kurzerhand selbst in die Arme zu nehmen, um das Gefühl des Tanzens direkt zu übertragen. Ein andermal gilt es, einer Schülerin zu demonstrieren, wie sie den Mut finden soll, sich dem Partner "anzunähern". Am lustigsten tönt es, wenn Kaiser'sche Pädagogik laut wird: "Seid lieb zu euch im Lernen und damit auch zum anderen". Und ein paar Minuten später, während die Lautsprecher die ersten Takte zu einem rassigen Lambada übermitteln, der gleich richtig in die Beine geht, demonstriert sie die etwas gemässigtere mitteleuropäische Variante dieses Latino-Hits.
TANZEN AUF HOHER SEE
"Mich hat beim Tanzen sehr bald das Pädagogische interessiert. Eigentlich wollte ich immer Tänzerin oder Lehrerin werden." Marianne Kaiser erzählt das bei einem gemütlichen Apéro in einem Restaurant, das sich gegenüber ihrer Dance-Loft befindet. Dass diese Räume in der ehemaligen Waschmittelfabrik vermutlich nur eine Zwischenstation bleiben werden, da sie als Provisorium gebaut wurden, scheint ihr im Gespräch besonders wichtig. Zwischen dem dunklen und nasskalten Januar-Abend, als dieses Gespräch stattfand und der Zeit, als die 21jährige beschloss, in London Tanz und Tanzpädagogik zu studieren, liegen mehr als zwei Jahrzehnte. Eine der besten englischen Tanzpädagoginnen sei ihre Lehrerin gewesen, berichtet sie dankbar zurückblickend. Diese überzeugte die junge Elevin bald einmal davon, dass deren Talente vor allem im Kreativen, Spielerischen, ja sogar Therapeutischen lägen. "Mich hat damals die Tanztherapie, die Bewegungstherapie wahnsinnig fasziniert. Auch der Umgang mit der Sprache nahm mich ganz gefangen. Den richtigen Ton zu finden ist fast ebenso wichtig, wie Technik und Rhythmus selbst." Immerhin gab der England-Aufenthalt auch noch den Anstoss zu einer völlig unerwarteten neuen Karriere. Ein Angebot, als Tänzerin in einer 20köpfigen Entertainment-Crew auf einem Schiff mitzumachen, war zu verlockend, als dass sie es abgelehnt hätte. Ein Schweizer Freund, der sich ebenfalls in England zum Tänzer ausbilden liess, suchte eine Partnerin. Der kurze Kommentar der Londoner Tanzlehrerin: "Ein solches Angebot ist einmalig. Du musst einfach gehen." Obwohl die 21jährige eigentlich nach ihrem England-Aufenthalt den Job als Tanzlehrerin an der Kaiser Tanzschule in Zürich annehmen sollte, waren Fernweh und die Lust am Abenteuer stärker. Zürich musste noch drei Jahre warten, bis die verlorene Tochter wieder zurückkehrte.
Mit dem Diplom einer in London ausgebildeten Tanzlehrerin und dem ehrenvollen Titel eines Mitglieds der "Imperial Society of Teachers of Dancing" im Gepäck überschritt die junge Tänzerin die Planken ihres ersten Schiffs, das für die folgenden Monate ihr Arbeitsort und Zuhause werden sollte. Zwischen dem verlockenden Angebot und dem Beginn der Reise lagen nur wenige Tage, gerade genug, um sich in einem Londoner Atelier, das sich auf die Anfertigung von Bühnenkleidern spezialisiert hatte, schicke Kostüme für die unterhaltsamen langen Abende anfertigen zu lassen. Für das Einstudieren der ersten Auftritte mit ihrem Partner blieben ihr genau zehn Tage und Nächte.
WIEDER FESTEN BODEN UNTER DEN TANZSCHUHEN
Nach fast drei Jahren auf den damals modernen "one-class-Schiffen" mit ebensolchen Kreuzfahrern hiess es Abschied nehmen. Zwar gab es zwischen den monatelang dauernden Engagements immer wieder Aufenthalte in der Schweiz, aber manchmal hatte Marianne Kaiser schlichtweg ganz gewöhnliches Heimweh. Zurückblickend zählen die drei Kreuzfahrer-Jahre jedoch zu den eindrücklichsten und spannendsten, nicht zuletzt auch deshalb, weil die ganze Welt ihre Bühne war. Mal tanzte sie inmitten der Entertainment-Staff, als das Traumschiff irgendwo im Mittelmeer kreuzte, aber oft war sie in der Südsee, auf den Fidschi-Inseln, in Japan, Hong Kong, Australien, New Zealand und natürlich durch den Suez- und Panama-Kanal. Monatelang hiess es daher: Nachmittags Probe, abends Auftritt und das meist sieben Tage in der Woche... "Irgendwann wird man auch ein wenig müde von einem Leben, wo man alle zwei Wochen neuen Menschen begegnet, manchmal kommt man sich auch näher, aber fast immer weiss man genau, dass man sich nie wieder sieht. Es ist ein permanenter Abschied." 1968 trat die "Seefahrerin" ihr um fast drei Jahre verschobenes Engagement als Tanzlehrerin an der Tanzschule Kaiser an. Die erneute Begegnung mit dem 15 Jahre älteren Startänzer und Inhaber der Tanzschule Kaiser erwies sich als schicksalhaft. Aus der aufflammenden Liebesbeziehung wurde ein Jahr später eine Ehe. Das Jahr der Rückkehr war gleichzeitig der Beginn einer "ungeheuer kreativen, intensiven Zeit, im privaten wie beruflichen Bereich", erinnert sich Marianne Kaiser heute. Sie habe jedoch nie mit ihrem Mann getanzt, ausgenommen, es ergab sich mal so in einer Gruppe. Denn: "Walter Kaiser war immerhin Weltmeister gewesen. Und ich glaubte, dass gemeinsame Auftritte unsere Beziehung zueinander zu sehr einengen würden."
Acht Jahre dauerte die Ehe und Zusammenarbeit in der Tanzschule Kaiser. Als die Beziehung in die Brüche ging, stand gleichzeitig die weitere Existenz der etablierten Tanzschule auf Messers Schneide. Der damals 47-jährige Gründer zeigte gewisse Ermüdungserscheinungen in einem Beruf, den man immer dann ausübt, wenn alle anderen frei haben. Marianne Kaiser war jedoch mit 32 Jahren jung genug, um weiterhin als Tanzlehrerin zu arbeiten. Drei Jahre nach der Scheidung übernahm sie die Geschäftsführung, sechs Jahre später die ganze Schule von Walter Kaiser, der inzwischen in Frankreich lebt.
ALLE MÜSSEN ALLES KÖNNEN
So einfach lautet heute die Devise für Marianne Kaiser und ihre Mitarbeiter. Sie sind Allrounder, die auch mal eine Birne einschrauben können und Schreibtischarbeit bewältigen. Sie geben Interessenten Auskünfte, nehmen Kursgebühren entgegen und müssen selbstverständlich ausgebildete Tanzlehrer sein. Beim Gespräch im Januar spürte man jedoch ganz deutlich, dass die aktuelle Situation Marianne Kaiser noch nicht ganz befriedigte. Die drei Trainingsräume der Tanz-Loft am Escher-Wyss-Platz teilt sie mit ihren zwei Tanzlehrern und zwei Assistentinnen. Ein gutes Team voller Universal-Genies! Doch hängt die Inhabern der Tanzschule noch immer an "ihrem" alten Quartier im Seefeld, dort, wo sich die beiden Kaiser Tanzschulen während vieler Jahre befanden, bis die Kündigung des Mietvertrages der liebgewonnenen Situation ein Ende machte. Doch war bei Redaktionsschluss die gute Nachricht druckfrisch: Ganz nah an der alten Adresse, wo Frau Kaiser schon vor vielen Jahren arbeitete, werden Räume frei, die sich ausgezeichnet als "Dependance" eignen. Und bevor diese Zeilen in Druck gingen, stand es fest, dass der Einzug im Frühsommer stattfinden wird.
WACH SEIN UND VIEL MUSIK HÖREN
Als Mitglied des Schweizerischen Tanzlehrer-Verbandes, der dem internationalen Dachverband angeschlossen ist, hat Marianne Kaiser oft Gelegenheit, über Tanzdidaktik zu sprechen. Ein Ziel der Mitglieder ist vor allem, die Ausbildungsmöglichkeiten zu verbessern. In diesem Kreis werden auch neue Trends besprochen, die in der kommenden Saison eine Rolle spielen können. "Seit Lambada nichts Neues" scheint jedoch noch immer der letzte Stand zu lauten. Bis sich der neueste Hit aus Fernost oder Südamerika ankündigt, tanzen Kaiser-Schüler jedoch die ganze Palette der klassischen und popigen Tänze auf und ab. Für viele Schülerinnen und Schüler der Kaiser-Tanzkurse steht als Highlight am Saison-Ende die Teilnahme am glanzvollen Kaiser-Ball, Anfang Dezember im Zürcher Kongresshaus fest. Die Jungen finden's "in" in Schwarz und Weiss zu debütieren und das Publikum freut sich, zu tanzen. Tanzen erhält beweglich und fit, im Körper wie im Geist. Marianne Kaiser ist der Beweis dafür.
Helga Wienröder
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