Neulich an einem Sonntag
Tiefsinnige und andere Gedanken
Sonntag, 11. Mai 2003, Muttertag, Fussball-Cupfinal, trübes Wetter, ach ja, die Europa-
Meisterschaft Amateure Latein von vor einer Woche in Lausanne kommt auch noch am
Fernsehen, der Tagesablauf ist klar...
14.30 Uhr: Die TV-Übertragung des Cupfinals FC Basel - Neuchâtel Xamax beginnt. Der
Titelverteidiger und Schweizer Meister (FCB) ist gut drauf, die Stimmung im ausverkauften St.
Jakobs-Stadion in Basel ist grandios.
Ich schaue nur kurz herein, denn: Seit dem Champions League-Spiel, an dem der FCB in der 1.
Halbzeit 3 : 0 in Führung ging und ich in dieser Zeit ein gemütliches Bad genommen hatte und der
FCB dann, als ich in der 2. Halbzeit zuschaute, drei Gegentreffer kassierte und deshalb doch
"nur" ein Unentschieden herauskam, bin ich vorsichtig geworden. Ein bisschen Aberglaube muss
sein, und meine Frau Evelyne schickt mich sowieso seither ständig ins Bad, wenn der FCB spielt,
und das ist oft! Vermutlich bin ich der sauberste Basler während eines FCB-Matches...
Heute streike ich, nehme kein Bad, beschäftige mich stattdessen am PC fürs CHTanz und die
schweizer Turniertanzszene, bearbeite Tanzfotos, schreibe Mails an die CHTanz-Redaktion...
Allerdings werde ich ständig gestört: Bei jedem Goal werde ich gerufen, es reicht jeweils, die
interne Treppe hinaufzuspurten, von allen Seiten werden die Goals in Zeitlupe gezeigt, eines ist
schöner als das andere: Der FCB bodigt Xamax erbarmungslos mit 6 : 0. Unsere Heimatstadt mit
einem tollen, begeisterungsfähigen und treuen Publikum (nicht nur in guten Zeiten) jubiliert und
wir mit ihm. Allerdings bedauern wir unsere welschen Freunde schon etwas.
Im Fussball und anderen populären Sportarten ist eine Unmenge Geld im Spiel. Was würde wohl
der Tanzsport-Verband anstellen, wenn plötzlich Geldgeber auftauchen würden? Würde er das
Geld richtig einsetzen? Ziel dürfte kaum sein, ein ausländisches Spitzenpaar einzukaufen, wie
der FCB und alle anderen reichen Clubs dies mit argentinischen Superstars wie Gimenez und Rossi
vormachen. Auch wenn es reizvoll wäre, solche Zugpferde zu haben. Erfolg bringt Nachwuchs!
Trotz des Cupfinals fängt die Zusammenfassung der Latein-Europameisterschaft auf dem gleichen
Kanal pünktlich an. Wow, da wird etwas geboten! Diese sogenannten Amateure sind Super-Profis:
Aufmachung, Präsentation, Tanzen, alles gestylt, alles top-professionell. Begeisternd!
Achtung, die Post geht ab: Maurizio Vescovo mit seiner Partnerin Melinda Törökgyörgy tanzt einen
sensationellen Jive, da sehen die Rock'n'Roller von vorhin ganz schön alt aus! Ich bin fasziniert
vom Namen Törökgyörgy, könnte Finnisch sein oder Ungarisch, ist Ungarisch (die beiden
Sprachen tönen sehr ähnlich), Maurizio Vescovo hingegen klingt doch sehr italienisch! Das erste
dänische Paar, Klaus Kongsdal (Däne) und Viktoria Franova (Russin), ist sehr gut, technisch
akkurat, sehr harmonisch (2. Platz); der Funken ihrer Landsleute, Peter Stokkebroe und Kristina
Juel springt hingegen nicht rüber, zumindest nicht zu uns. Die Mehrzahl der Wertungsrichter sieht
das ähnlich und setzt sowohl das ungarische Paar (4. Platz) wie auch ein im Final neues,
vielversprechendes russisches Paar, Denis Kuznetsov und Maria Tzaptachvilli (5. Platz), vor die
zweiten Dänen. Viel besser gefallen uns Riccardo Cocchi und Joanne Wilkinson (Australierin), für
Italien startend (3. Platz), und Franco Formica (Italiener) und Oksana Nikivorova (Russin), für
Deutschland startend, die neuen Europameister.
Die schweizer Vertreter können da nicht mithalten. Was läuft falsch in der schweizer
Turniertanzszene, beim Verband, bei den Paaren, bei den Funktionären?
Gerade mal eine Viertelstunde bleibt Zeit, das Nachtessen vorzubereiten, schon kommt das
Sportpanorama, das wir, wenn immer möglich, nicht auslassen. Zuviel kann man von anderen,
erfolgreicheren Sportarten lernen, da und dort Hinweise aufschnappen, wie man das Tief des
schweizer Turniertanzes überwinden könnte. Heute, ich gebe es zu, fiebern wir vor allem dem
Bericht über den FCB und die Siegesfeier zu.
Aber, was kommt zuerst: Leichtathletik! Wir haben nichts gegen Leichtathletik, schauen öfter zu,
fiebern mit den schweizer Leichtathletik-Stars mit, gerne erinnere ich mich auch an einige
Ausbildungstage im Magglinger Sportzentrum, denke an die tolle Infrastruktur für die Athleten,
aber heute ist FCB-Tag!
Doch der Beitrag über die Leichtathletik ist brisant:
Leichtathletik: Verletzte schweizer Exponenten
"Schlechte Meldungen diese Woche für die schweizer Leichtathletik: Marcel Schelbert, WM-
Bronzemedaillengewinner über 400 Meter Hürden, ist zurückgetreten. 1500-Meter Läuferin Anita
Weyermann ist erneut verletzt und auch André Bucher ist nach seinem Ermüdungsbruch noch
nicht wieder fit. Die schweizer Leichtathletik droht ohne ihre wenigen Top-Leute in der
Anonymität zu versinken."
Das kennen wir doch auch im schweizer Tanzsport, der letztjährige Ausfall von Sven Ninnemann
und Fabienne Liechti, unserem Top-Tanzpaar, hat durchaus Parallelen.
Was folgt? Die Rücktrittsbegründung von Marcel Schelbert: "Nach 5 Operationen in den letzten 3
Jahren fehlt einerseits die Freude und der Spass am Ganzen, am Training, an den Entbehrungen,
am Aufwand, der betrieben werden muss, dann fehlen Glaube und Überzeugung, wieder einmal
dorthin zu kommen, wo man einmal war und wo man sich eigentlich sehen möchte..."
Von Krise ist die Rede, von desolater Situation, es wird aufgezeigt, dass die Zahl der
lizenzierten Athleten seit 1990 um fast die Hälfte abgenommen hat, dass ein weiterer Rückgang
zwar verhindert werden konnte, dass von Aufschwung jedoch keine Spur sein kann, Zitate:
"Ohne erfolgreiche Idole wird es schwer, Nachwuchs für den Leichtathletik-Sport zu gewinnen."
"Der heutige Zeitgeist sowie die nur kleine Chance, jemals an der Spitze mitmischen zu können,
ist für die Misere auch ausschlaggebend. Man hat so viele andere Sachen nebenbei, man möchte so
viele Dinge ausprobieren, man ist neugierig."
"Spielsportarten sind in, Funsportarten..."
Der Leichtathletik-Verband reagiert sofort. Es entstehen neue Leistungszentren in Lausanne, Bern
und Zürich. Der technische Direktor Peter Schläpfer: "Wir wollen versuchen, den jungen Athleten
solche Rahmenbedingungen zu bieten, dass sie die Leichtathletik möglichst professionell betreiben
können, dass sie Schule und Sport möglichst gut unter einen Hut bringen können, dass sie gesund
bleiben."
Das tönt gut!
Haben wir eigentlich einen technischen Direktor im STSV-Verband? Und wer ist zuständig für die
Infrastruktur? Alle anderen (Tanzschulen, Clubs, Private) nur nicht der Verband? Ein zentrales
Leistungszentrum wäre traumhaft! Oder auch nur ein grosser Saal, der 3 - 4 Mal wöchentlich den
Spitzenpaaren zum gemeinsamen Training zur Verfügung steht. Selbstverständlich auch dem
Kader. Gibt es eigentlich jemanden im Verband, der so wie wir interessiert Aufbau und Strategien
in andern Sportarten anschaut und versucht, das Positive und Machbare auf den Tanzsport zu
übertragen? Welches Ressort könnte dafür zuständig sein?
Roger Federer hat das Tennis-Finale in Rom verloren. Na ja, er war gedanklich wohl beim
Cupfinal, wohnt er doch fast neben dem Joggeli (St. Jakobs-Stadion) in Basel und geht wenn
immer möglich fanen. Cupfinal der Frauen... FCB. Endlich! Die Feier wird aber erst morgen Abend
gezeigt. Auch gut!
Fechten: "Die 18jährige Degenfechterin Sophie Lamon wurde gestern in Zürich beim einzigen
Damen-Weltcupfechtturnier der Schweiz Dritte." - "Sie ist in der Form ihres Lebens, wie eine
Löwin kämpft sie, und gewinnt, Mal für Mal, unterstützt von ihrem Coach und Vater, Ernest Lamon."
Ihre Mutter, auch Fechttrainerin, antwortet auf die Frage, ob Sophie das Talent von den Eltern
geerbt hat: "Man weiss heute, dass das Talent nur ein ganz kleiner Teil ist, der Rest ist
Arbeiten und Leidenschaft." Wie recht sie hat!
Ihr Vater ist Coach, Trainer, Betreuer, Co-Rektor an einem Gymnasium, Sport-und
Wirtschaftslehrer und Vater in einer Person. Er hat mitgeholfen, am Gymnasium in Sion ein
flexibles Schulmodell auszuarbeiten, bei dem talentierte Sportler sowohl intensiv trainieren
können und die Schule trotzdem nicht zu kurz kommt. Ein Teil des Unterrichtes (20 Lektionen)
muss in der Schule besucht, ein anderer Teil (12 Lektionen) kann im Fernstudium absolviert
werden. Seine Tochter wie auch Stéphane Lambiel, der Schweizer Star-Eisläufer, können u.a.
davon profitieren. Das Training findet täglich statt. Der Bruder fechtet auch, ist einer der
Sparring-Partner für seine Schwester.
Tönt auch gut! Da steht die Privatinitiative im Vordergrund, von Verband ist gar keine Rede.
Dieses Modell ist im schweizer Tanzsport häufig anzutreffen: Eltern setzen sich unglaublich für
ihre Kinder ein, opfern viel Zeit und Geld. Doch "opfern" hat einen negativen Beigeschmack:
Dieser Einsatz lohnt sich für eine so schöne Beschäftigung! Und die Kinder sind schon oder
werden einmal sehr dankbar dafür sein, unabhängig davon, wie erfolgreich sie sind oder waren.
Was selten ist, sind diese zusätzlichen Beziehungen: Schule und Sport so optimal unter einen Hut
zu bringen, diese Gelegenheit haben nur wenige.
Vielleicht liegt das ideale Modell irgendwie zwischen den beiden extremen Beispielen
Leichtathletik - Fechten: Es braucht Privatinitiative und es braucht den Verband, es braucht
optimale Rahmenbedingungen, also ein optimales Umfeld, eine optimale Infrastruktur, optimale
Wettkampfbedingungen, es braucht Professionalität, es braucht Unterstützung vom Verband und
von privater Seite, es braucht Verständnis, es braucht gute Trainer, gute Wertungsrichter, es
braucht Idole, es braucht Willen, Konzentration, es braucht die Bereitschaft, auf andere Dinge
zu verzichten, es braucht Gesundheit, es braucht... - zuviel?
Was sich nicht bewegt, steht still. Was sich seitwärts bewegt, kommt nicht vorwärts. Es bewegt
sich viel im schweizer Tanzsport, im Verband, bei den Paaren, bewegt es sich immer in die
richtige Richtung, bewegt es sich genug?
Wie schön hat es der FCB und seine Fans: Dort stimmt im Moment alles! Soll ich doch eine
Saisonkarte fürs Joggeli ergattern? Mal schauen... Baden während den Fussballspielen ist auch
schön!
Michael Scherer
NB: Den gesamten Wortlaut der zitierten Berichte findet man im Internet unter folgender Adresse:
www.sfdrs.ch dann Sendungen - Sportpanorama - Archiv - 11.5.2003 - 1.
Beitrag (Leichtathletik), 8. Beitrag (Fechten). Unter "Plugin-Hilfe" in der Mitte unten bekommt
man Hinweise, wie man die Sendungen anschauen kann (Real Player oder Windows Media Player).