GO, GIO, GO!
Aus "Penelope auf dem Kriegspfad"
von Oriana Fallaci
Verlag Ullstein GmbH
... Auf der Uhr von Radio City war es halb eins. Ein gefährliches Schweigen lag gärend über den
Dingen, über ihrer eigenen Unruhe, über der ganzen Stadt. Beide fühlten, dass es nun Zeit wäre,
einander adieu zu sagen, denn es war spät, und sie waren müde und nicht mehr zwölf und zwanzig,
sondern sechsundzwanzig und vierunddreissig Jahre alt. Aber: "Bist du müde Gio?" - "Nein, ich
bin nicht müde." - "Du, würdest du gern noch woanders hingehen?" - "Ja, ich ginge gern noch
woanders hin." Und dann begingen sie ihre allerletzte Torheit.
Ihre allerletzte Torheit hiess "Palladium", ein Tanzlokal der Neger. Die Neger hockten auf dem
Fussboden und klatschten den Rhythmus mit ihren rosafarbenen Handflächen. Das Tempo gab eine
Trommel an, die Trommel war enorm, und auch der Neger, der sie schlug, war enorm. Er hatte
enorme Füsse und enorme Waden, einen enormen Leib und enorme Finger, mit denen er der Trommel
einen harten grausamen, besessenen Rhythmus abzwang, den die Neger Twist nannten. Und bald
genügten ihm seine Finger nicht mehr, um diesen Rhythmus herauszuhämmern, und er nahm die
Ellbogen, die ihm bald auch nicht mehr genügten, und so trommelte er mit dem Kopf, stärker,
immer noch stärker, bis viele der Neger sich erhoben und die Hüften, die Schultern, die Arme
schwingend, sich auf die Tanzfläche stürzten, auf der sie sich mit zuckenden Körpern, verzerrten
Gesichtern und schwitzend drängten, und einer schrie: "Come, young lady, come!", und andere,
die schrieen: "Go, young lady, go!" Es waren hundert, zweihundert, dreihundert, alle waren sie
schwarz und riesig rings um sie, die sie so klein und weiss war, und sie klatschten den Rhythmus
und lachten mit riesigen Augen und riesigen Gebissen, und sie schafften einen freien Raum für
sie. Die Erregung wuchs.
"Komm, Richard!"
"Bist du verrückt?"
"Go, young lady, go!"
"Bitte Richard!"
"Come, lady, come!"
Der Neger, der ihr als erster zugerufen hatte, schob sich näher, unerbittlich. Der Mann an der
Trommel schlug immer stärker. Dreihundert Augenpaare stierten sie an, halb belustigt, halb
beleidigt. Dreihundert Kehlen peitschten sie an, herzlich und feindselig. Der Neger war jetzt
nur noch zwei Schritte von ihr weg, einen Schritt, er packte sie am Arm, zog sie mit sich.
"Du willst wohl nicht mit einem Neger tanzen, young lady?"
Da dröhnte die Trommel schwächer, ein Schweigen breitete sich aus.
"Willst du? Oder willst du nicht?"
Sie blieb einen Augenblick lang unsicher stehen, Furcht und Trotz hielten sie zurück. Und dann,
plötzlich, warf sie sich auf die Tanzfläche, in diese aufzuckenden Hüften, verzerrten Gesichter,
Schweiss, und während der Trommler wieder zu trommeln anfing, noch stärker als vorher, und die
Neger schrieen: "Go, young lady, go!", und Richard wie erlöst einstimmte: "Go, Gio, go!", begann
sie die Hüften, die Schultern zu werfen. Und tanzte, tanzte in vollkommenem Einklang mit dem
Rhythmus der Musik, mit den rosa Handflächen, die das Tempo markierten, mit den gutturalen
Schreien, dem Wiegen der Köpfe, bis schliesslich alles in einem letzten gloriosen Aufgellen
verebbte.
Richard stiess einen letzten Schrei aus, und sie fand sich wieder, zerzaust, verschwitzt, mit
durcheinanderwirbelnden Sinnen, an einen Knaben geklammert, den sie begehrte, der sie in ein
Taxi schob und mit ihr zum Washington Square fuhr, der dann mit ihr unter den Bogen des
Washington Square stand, Washington Square, von Bänken umgeben, dunkel und so seltsam hier in
New York, überraschend, nie erwartet. Der Knabe, den sie begehrte, sah sie an, als wenn
nun nichts mehr zu sagen wäre...