SPANISCHER TANZ
Aus "Gesammelte Werke in zeitlicher Folge"
von Max Frisch
Suhrkamp Taschenbuch
... das waren eigentlich die Augenblicke, die man sucht, Offenbarung des Lebens, die die längste
Reise lohnen würden, Stunden, die uns in höchstem Grade gegenwärtig machen, die uns fühlen
lassen, dass wir leben, dass es ein Wunder ist, ein Jubel über alles hinaus, was einströmt an
Angst und Schmerz und Verzweiflung, Stunden wirklichen Daseins, die uns dankbar machen, Dasein
mit jenem Glanz des Jetzt, dem wir das Unvergessbare ansehen. Was in allen Spielarten auffällt,
die echt bleiben, ist das Herbe daran, das Trotzige, das Bezwingende, das Besiegende. Ihr Tanz,
wie wild er auch werden mag, endet nie im Rausch der Auflösung, sondern im Gegenteil, im
Triumph über den Rausch, im Völlig-Gefassten, in einer Gebärde, die wie eine frohlockende
Fanfare ist. Nicht sich verlieren, nicht sich gehen lassen! Leidenschaft, aber im Zügel
gehalten, oder besser: als Partner gestellt. Der Stierkampf hat viel vom Tanz, der Tanz hat
viel vom Kampf. Die Gesten sind selten fliessend, oft abrupt; dramatisch, nicht lyrisch.
Stimmung wird wie etwas Feindliches abgeschüttelt, wo immer sie aufzukommen droht, endlich
geradezu mit den Füssen zertrampelt, unwirsch, fast höhnisch, unbarmherzig. Nicht sich
verlieren! Darum hat man auch nie den Eindruck, dass die Tanzende sich preisgebe, im Gegenteil,
gerade in ihrer Ekstase bekommt sie etwas gänzlich Unnahbares; ihr weisses Lachen voll einsamer
Lust ist wie ein Schild, ihre Grazie ohne jede Anbiederung. Sie tanzt ganz und gar für sich,
vielleicht sogar gegen sich, und zum Schluss, wenn sie die Arme emporwirft, erstarrend in einer
Pose, die voll Hochmut ist, voll kindlichem Hochmut, voll echtem Hochmut. Man beneidet sie:
als ein Menschenkind, das einen Drachen besiegt hat...