VORTRAG VON PROF. DR. MIC
Anlass: Tanzlehrerkongress auf dem Corvatsch, Oberengadin
"Ladies and Gentlemen,
Sehr verehrte Damen und Herren,
Liebe Tänzerinnen und Tänzer,
Chers spectaturs,
Nachdem viele gescheite, erfahrene und engagierte Tanzlehrer Ihnen im Laufe dieses zweiwöchigen
Kongresses unterhaltsame Tanzschritte und gesundheitsfördernde Choreographien in
freundschaftlichem, geselligen Beisammensein beigebracht haben, ist es nun an der Zeit,
sich über den Ursprung all dieses Geschehens klar zu werden. Mit Geschehen meine ich
Gesellschafts- und Turniertanz.
Lassen Sie mich bitte jetzt ein wenig ausholen und zu meiner Person etwas erzählen, damit Sie
meinen Gedankengängen später besser folgen können.
Ich bin der Rabe Mic, Flugspezialist, Fliegtrainer und Unterhaltungsexperte. Seit einiger Zeit
wohne ich bei Michael und Evelyne Scherer, mal in Oberwil, mal in Madulain. Die anregende
Höhenluft im Engadin ist besonders förderlich für unsere Zusammenarbeit auf diversen
Interessens-Gebieten, liefert auch den nötigen Sauerstoff für die hitzigen Diskussionen, die
wir tagtäglich führen, hitzig, weil wir nicht immer gleicher Meinung sind. Nehmen wir's vorweg:
Meine Meinung stimmt natürlich immer, die der andern selten. Ich kann sie aber entschuldigen,
weil sie es nicht besser übermittelt bekommen haben. Auch Sie, liebes Publikum, können nichts
dafür, wenn Sie meinen, die Tanztechnik und deren Terminologie hätten die Engländer erfunden,
denn es ist Ihnen bei der Ausbildung so suggeriert worden.
Das Gesellschafts-und Turniertanzen haben nämlich, lange bevor es Menschen gab, die Vögel
erfunden, es ist dann im Laufe der Evolution von den Menschen übernommen worden, mit mässigem
Erfolg, wenn ich mir diese Zwischen-Bemerkung erlauben darf. Auch dafür sind Sie entschuldigt,
da Ihnen doch leider die Flügel fehlen, die Sie von der geselligen, sportlichen Betätigung zur
hochentwickelten Kunst aufschwingen lassen würden.
Einen Beweis für diese meine Theorie liefert die Tatsache, dass Sie, liebe Tänzerinnen, sich mit
Federboas schmücken, wenn Sie sich für ein Tanzturnier präsentieren. Ganz unbewusst wollen Sie
damit den Ursprung des Tanzes darstellen und die Zuschauer täuschen, die meinen, dass Sie über
das Parkett schweben, wie wir Vögel es an Ihrer Stelle es auch wirklich täten. Auch zeigen Sie
sich in vielfarbigem Gefieder, Verzeihung, hüllen Sie sich in vielfarbige duftige Stoffe, die
unserem Gefieder nachempfunden werden.( Wie kann doch unsere Evelyne die Augen vor Wonne
verdrehen, wenn sie an Farben und Stoffe denkt!) Die Herren zeigen da mehr Zurückhaltung, vor
allem die Standard-Herren, die sich in edlem Schwarz zeigen. Genau so wie ich! Aber auch dazu
eine private Zwischenbemerkung von mir: Es ist mir unverständlich, wie die Menschen doch
schlecht beobachten. Bei uns Vögeln sind die Männchen die Bunten, die Weibchen wollen weniger
auffallen und ziehen eher Tarnfarben vor, ganz im Interesse des Brutgeschäftes.
Wir tragen unsere Turniere im Freien aus, denn wir lieben das Weite, die Unendlichkeit des
blauen Himmels, ganz im Gegensatz zu Euch Menschen, die es auf einem kleinen abgesteckten
Rechteck aus Holzparkett versuchen. Da muss man ja unfreie, eingeengte Bewegungen ausführen,
ob man will oder nicht. Und was soll die Idee, Wertungsrichter an den Flächenrand zu stellen,
die einen einschüchtern und den kleinen Raum noch mehr eingrenzen? Darüber kann man mit Michael
überhaupt nicht diskutieren. Er und ich bleiben auf unserem Standpunkt! Eisern!! Er dafür! Ich
dagegen!
Aufgepasst: Jeder Vogel macht im Anfangsstadium seiner Flugkünste etwas ungeschickte und
hilflose Bewegungen. Aber bald kann er es in Perfektion, ausdauernd, meisterhaft, jeder
Einzelne von uns. Da braucht es keine Turniere, keinen Wettkampf und keine Preise. Jeder von
uns ist einmalig und unschlagbar. Zugegeben, die Pinguine und Strausse bilden Ausnahmen von der
Regel. Schliesslich gibt's auch unter den Menschen einige, die das Tanzbein nicht schwingen.
So wie Ihr Menschen uns nachahmt, so gibt es in der Vogelwelt Exemplare, die es Ihnen gleichtun
möchten. Ich denke dabei an die Kraniche, die ihre Balztänze auf dem Boden statt in den Lüften
zelebrieren, allerdings mit mehr Grazie als es mancher Mensch tut. So vermischen und ergänzen
sich Bräuche, Ausdrucksweisen und Gedankengut zwischen beflügelten und unbeflügelten Lebewesen,
was ja an und für sich erwünscht und förderlich ist, eine Art globalisierendes,
zwischenkreatürliches Denken und Fühlen fördert.
Ihr Menschen schmückt Euch also mit fremden Federn, was die Kleidung aber auch die Terminologie
des Tanzens betrifft. Folgen Sie bitte nun meinen lehrreichen Ausführungen, die ich auf das
Standard-Tanzen beschränken werde, denn sonst überschreite ich die ohnehin zu kurze Zeit, die
mir zugestanden wird um zu dozieren. In Ihrer "Tanztechnik" verwenden Sie Ausdrücke, die wir
vor Ihnen schon verwendet haben. Instinktiv reden Sie dabei nicht so, wie Ihnen der Schnabel
gewachsen ist, sondern in englischer Sprache, denn sie fühlen, dass die Ausdrücke entliehen
sind. Verloren gegangen ist aber die Kenntnis, dass wir Vögel alles schon vor Ihnen wussten!
Zugegeben, Englisch tönt besser, als wenn Sie sich piepend oder zwitschernd über die Technik
unterhalten müssten.
Schon die Flugsaurier also konnten die Bewegungen, die Sie nachzuahmen versuchen, in voller
Perfektion ausführen. Die Flugtechnik haben sie aber nie aufgeschrieben, sondern von Vogel zu
Vogel weitervererbt und verbessert, zusammen mit den Fachausdrücken, die Ihr Menschen dann
verändert habt.
Lassen Sie mich nun einige Wörter aus unserem Fachjargon erklären. Es sind beileibe nicht alle
Begriffe, das würde zu weit führen und ich zähle sie ohne logische Reihenfolge auf, denn die
starre Logik ist uns Vögeln fremd, wir verlassen uns auf den Gefühlsmoment, der uns nie trügt.
SWAY (Neigung)
Verwenden wir zur Herstellung des Gleichgewichts, je nach Windstossrichtung
Sway to the inside of the turn = wichtige Regel für die Greifvögel über dem Gelände.
SPIN (to spin round = um die eigene Achse drehen)
Wird vor allem von den Pfauen angewendet, wenn sie sich und ihr Gefieder zur Schau stellen
wollen.
WAVE (schwanken, taumeln...)
Das tun wir, wenn der Wind uns zum Spielen in der Luft einlädt und das tun wir ausdauernder als
Sie in der Continuous Wave!
WEAVE (hin-und herpendeln, sich schlängeln)
Wird vor allem durch die Eule während des Nachtflugs praktiziert, wenn sie im Wald zwischen den
Bäumen fliegend den Boden nach Mäusen absucht.
Unsere absoluten Weave-Spezialisten sind unsere sogenannten "Weaverbirds" (Weber-Vögel), die
sich nicht nur ausgezeichnet bewegen sondern auch mit dem Schnabel kunstvolle Nester "weben"
können.
RISE AND FALL (Aufschwung und Fall)
Das können die Albatrosse in umgekehrter Reihenfolge besonders gut. Zuerst lassen sie sich von
den Klippen fallen, der Aufwind pustet ihnen dann den nötigen Auftrieb in die Flügel. Hier sieht
man deutlich, dass Sie, verehrte Tanzfreunde, die Technik missverstehen. Bei uns folgt auf den
Fall der Flug, bei Ihnen ist der Fall das bedauernswerte Ende.
IMPETUS (Antrieb)
Unser Antrieb ist die Bewegungslust, das perfekte Fluggefühl, die Freude an der Improvisation,
der Windstoss, bei Ihnen ist es bloss eine Tanzfigur.
SWING (Schwung)
To be in full swing heisst bei uns "in Fahrt sein", das heisst das Leben geniessen, der Sonne
entgegen tirilieren, wie es die Lerche frühmorgens tut, oder die Schwalbe, wenn sie auf
Mückenfang Flugkunststücke knapp über den Grashalmen zeigt. Ihr Menschen braucht einen
schwungauslösenden Schritt auf 1, dann folgt endlich der Schwungschritt auf 2, der auf 3 im
Walzer z.B. schon sein Ende findet. Wie jämmerlich! Entschuldigung, das ist mir halt so
ausgerutscht. Sie können ja nichts dafür, dass Ihr Schwungschritt nur ein kümmerlicher Überrest
unseres Fluges ist.
ALIGNEMENTS (Ausrichtung)
Zum Fliegen brauchts das nicht, denn nichts hemmt unsern Flug! Sie werden einwenden, dass die
Telefon- und anderen Drähte sehr wohl die unglücklichen Störche unterwegs so hemmen, dass sie
nie am Ziel ankommen, aber dass soll nicht die Regel sein.
Mit Alignement bezeichnen wir die auf den Drähten aufgereihten Zugvögel, schön einer neben dem
andern, in abgemessenem Abstand, in luftiger Höhe. Es hat also nichts "Bodenhaftes" wie bei
Ihnen, den Tanzlehrern.
POINTING (zeigend)
Sie tun es mit der Fussspitze, nämlich in eine Richtung zeigen. Wir brauchen dazu den
Schnabel:
Pointing diag. worm, wenn wir unserer Brut zeigen wollen, wie das Vorderende des Wurms aussieht,
der gerade dabei ist, die Erde aufzulockern, und der bald von uns verspiesen wird.
Pointing against line of telephone, wenn wir auf den lästigen Draht aufmerksam machen wollen,
der unserem Direktflug im Weg ist. Sie sehen, in Ihrem Technikbuch ist der Begriff Pointing dem
Sinn nach sehr stark verändert worden.
WOODPECKER (Specht)
Mein Bruder, der Specht, klopft sich mit dem kräftigen Schnabel Leckerbissen aus der Baumrinde.
Sie haben daraus eine in unseren Augen unbeholfene Tanzfigur gemacht. Suchen Sie etwa im
Tanzparkett Leckerbissen? Sie sehen, Ihre Figur hat den Sinn der Sache total verloren! Was
soll das?
LINE OF DANCE (Tanzlinie)
Dieser Begriff ist mir keine Neuheit, habe ich ihn zuhause doch schon oft gehört. Nach
aufmerksamem Mitdenken während des Tanzkongresses ist es mir auch klar, dass Sie sich über
Facing LOD, Facing Center or Backing Wall und dergleichen den Kopf zerbrechen. Typisch Mensch!
Sie orientieren sich nach Wänden, nach geschlossenen Räumen. Warum tun sie es nicht wie wir?
Die Sonnenstrahlen, die Sterne, der Wind sind unsere Orientierungspunkte, fragen Sie einmal die
Brieftauben! Das sind echte Meister! Sie kennen ausser dem Käfig des Taubenzüchters keine engen
Grenzen und verlieren dennoch nie die Orientierung, was man von den Tänzern nicht immer
behaupten kann, leider.
POISE
Auch zu diesem Thema tun Sie dergleichen, wie wenn Sie draus kämen. Bei Ihnen ist "Poise" eine
gute Körper- und Kopfhaltung.
Bei uns Vögeln aber bedeutet es
1. Gleichgewicht: Wir können auf dem kleinsten Ästlein sitzen und mit den Schwanzfedern
ausbalancieren, auch wenn der Wind daran rüttelt.
2. Schwebe: Wenn Sie ein Flügelpaar besässen, könnten Sie sich ein gutes Beispiel am Bartgeier
im Nationalpark nehmen. Wie der über den Wiesen und Geröllhalden schwebt, lautlos und fast
bewegungslos, getragen von den Aufwinden der Berghänge.
3. Haltung: Gucken Sie mal die stolze Haltung des Vogel Strauss an! Der langgezogene Hals! Der
stolz erhobene Kopf! Der selbstsichere Ausdruck! Papa Strauss erklärt es seinen Jungen einen
kurzen Moment lang, führt es ihnen vor, und schon können es die Kleinen ein Leben lang! Und da
soll es Tanzlehrer und Trainer geben, die das ihren Schülern in jeder Stunde wieder von neuem
abverlangen müssen.
4.Sicheres Auftreten, Gelassenheit: Das könnten Sie als Tänzer dem Flamingo abgucken, der zeigt
Ihnen ein sicheres Auftreten auch auf rutschigem nassem Boden, sogar im Schlamm und auf dem
Nestrand, mit Gelassenheit wartet er dabei, bis die Jungen aus dem Ei schlüpfen, es hat keine
Eile.
WING (Flügel)
Wie gebrauchen wir doch unsere Flügel auf eine natürliche, majestätische, kunstvolle,
ausdrucksvolle Art! Wie ich im Training diese Woche feststellen konnte, bereitet es Ihnen Mühe
Ihre Flügel, pardon, Ihre Arme länger als eine halbe Stunde entspannt oben zu lassen, rasch
hängen Ihre Ellbogen kraft- und saftlos nach unten! Freuen Sie sich, dass Sie nicht mit den
Wildenten fliegen müssen! Nach kurzer Zeit schon würden Ihre lahmen Flügel den Dienst versagen
und Sie lägen auf dem Boden, wo ein Fuchs Sie als leichte Beute mühelos einsammeln würde.
FOUR QUICK RUN
Einmal mehr zeigt es sich, wie sehr wir Ihnen überlegen sind. Haben Sie schon einmal den
Rennvogel (Roadrunner) in der Wüste beobachtet? Der rennt eine ganze Strecke lang, nicht nur
ein paar Schritte weit, wie in der so bezeichneten Quickstepfigur.
TOE / HEEL (Ballen, Absatz)
Das war bei uns schon ein Thema, als es die Menschheit noch gar nicht gab! Unsere TOES sind
aber viel besser ausgebaut als Ihre, haben wir doch schöngeformte Krallen, die in vielen
Lebenssituationen wichtig sind, auch beim Sitzen und Ausruhen auf dem Ast. Unsere sind nicht
angeklebt wie die der Turniertänzerinnen (die künstlichen Fingernägel), sondern echt, sinnvoll
und praktisch. Wir bewegen unsere Füsse ausdrucksstärker als manche Tänzer, wir besitzen
sozusagen Fingerspitzengefühl bis in die Krallen, die Tänzer suchen das Gefühl in den Schuhen
und findens dort leider nicht oft.
Ich sehe, das lange Sitzen und aufmerksame Zuhören hat Ihnen einige Mühe abverlangt. Deswegen
kürze ich meinen Vortrag und lasse alle anderen Ausdrücke, die wir Vögel schon vor Ihrer
Tanzzeit erfunden haben, die ich Ihnen sehr gerne noch erklärt hätte, weg und wir bewegen uns
ein wenig gemeinsam wie folgt:
Sie stehen bitte alle auf Ihren Stuhl, vergewissern Sie sich, dass Sie genügend Platz haben,
um Ihre Flügel, ähh Arme auszubreiten und schon geht's los, zuerst langsam, damit alle
mitkommen. Ich diktiere die Bewegungen auf English, wie Sie es in Ihrer Ausbildung gelernt
haben, damit Sie mich gut verstehen:
Rise your right wing on one
Rise your left wing on two
Rise your tail-feathers on three
And you fall off the tree.
Und schnell wieder auf den Stuhl steigen und dasselbe nochmals, etwas schneller diesmal:
Rise your right wing on one
Rise your left wing on two
Rise your tail-feathers on three
And you fall off the tree.
Diese Übung kann man schon im Klein-Piep-Alter ausführen, macht viel Spass und kann im Tempo
je nach Können und Alter gesteigert werden.
Recht herzlich danke ich Ihnen für Ihr Mitmachen. Ich hoffe, wir werden uns nächstes Jahr
wieder treffen, am selben Ort und zur selben Zeit.
Bis dahin ein aufmunterndes und freundschaftliches KRAH! KRAH! KRAH!
Fast hätte ichs vergessen:
Darf ich Sie noch darauf aufmerksam machen, dass in der jetzt folgenden Pause im Foyer für alle
eine Erfrischung herumgereicht wird? Ich empfehle Ihnen die köstlichen Vermicelles zu
versuchen. Sie sind ganz frisch. Eine grosse Schar von hilfreichen gefiederten Freunden haben
alle Würmlein während meines Vortrags aus der frisch gedüngten Wiese gepickt und fein
säuberlich in die Törtchenböden gehäuft.
Guten Appetit!"
P.S. Prof. Dr. Mic hat mir aufgetragen, seine Ausführungen zu veröffentlichen, damit seine
Weisheiten grössere Verbreitung finden. Es ist recht einfallsreich, was er produziert, auch
unterhaltend, aber ihr Leser werdet mit mir einig gehen, dass Mic recht übertreibt. Deswegen
auch die täglichen Streitgespräche und Diskussionen! Er ist und bleibt uneinsichtig, beharrt
darauf, dass das Tanzen keinerlei Technik bedarf, dass man es aus den Federn heraus, pardon,
aus dem Gefühl heraus beherrschen können sollte.
Wie auch immer: Mit besten Grüssen, Eure
Evelyne Scherer
3. Mai 2002