zurückblättern



Das Tanzturnier am Radio

Vorbemerkung: In der fussballlosen Zeit werden die Fussball-Radioreporter, um nicht arbeitslos zu werden, für andere Sportarten eingesetzt. Dabei kommen auch sogenannte Randsportarten wie das Turniertanzen zum Zuge. Für diejenigen, die die letzte Tanzturnier-Radio-Reportage verpasst haben, wird sie hier in schriftlicher Form nochmals wiedergegeben:



"Guten Tag, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer am Radio zu Hause und im Äther. Ich begrüsse Sie herzlich zur heutigen Übertragung des Tanzturniers aus dem Berner Wankdorf. In der fussballlosen Zeit sind wir Fussball-Reporter verpflichtet, für spannende Reportagen auch von anderen Sportarten zu sorgen. Ich bin für ein Tanzturnier eingeteilt worden. Im Vorfeld der Sendung habe ich mich umfassend in die Materie eingearbeitet, so dass alles bestens klappen sollte.

Von meinen Fussball-Reportagen und von Kollegen habe ich zudem immer eine Liste dabei mit den gebräuchlichsten und treffendsten Ausdrücken und Beschreibungen für Fussballspiele und Spieler. Wo habe ich die Liste noch gleich... Hier ist sie. Mal schauen, ob ich etwas davon verwenden kann.

Allerdings will ich beim ersten Mal auch nicht zu dick auftragen. So heimisch fühle ich mich noch nicht an Tanzturnieren. Und ich weiss nicht, ob die Teilnehmer gleich viel einstecken können wie die Fussballer:



echter Fehlstart
desolates Spiel
die Spassgrenze ist erreicht
erschreckend schwache Leistung
ohne Biss und ohne Schwung
lange Mängelliste
komplett abgemeldet
Gruselfussball
ohne grossen Aktionsradius
diese Minimalisten



erbärmlich Fussball spielen
... ist die Karikatur eines Fussballspielers
haben seit einer Viertelstunde Auszeit
ein Ausdruck der Hilflosigkeit
... bastelt weiter an seiner nicht vorhandenen Auswärtsform
Gelb wegen Meckerns
wirken oft ängstlich und verkrampft
die Kapitänsbinde anhaben
eine Schwalbe machen
unbeschadet in die Kabine kommen



sonst habe ich ja noch die Positiv-Liste:

hat das Verlieren gelernt
endlich ist Dampf drin
kämpfen bis zum Umfallen
nützen die Chancen
initiativ
offensiv
das ist etwas für die Seele

(in Fussballreportagen aufgeschnappt und notiert von Evelyne)



Das Tanzturnier hat noch nicht angefangen. Somit habe ich Zeit, Ihnen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, interessante Hintergrund-Informationen zum anstehenden Tanzturnier zu geben:

Im Gegensatz zu den früheren Ritterturnieren werden Tanzturniere nicht im Freien abgehalten sondern in einer Halle. Die Turnierfläche besteht aus poliertem Holz, die Grösse des Spielfeldes ist mehr oder weniger den Veranstaltern überlassen. Die Seitenlängen hier betragen geschätzte 10 x 18 Meter. Linien gibt es keine, weder Mittellinie noch Aussenlinien. Von meinem Platz aus kann ich auch weder einen Strafraum noch einen Penalty-Punkt ausmachen. Schiedsrichter gibt es auch keinen, es hat nur 5 Linienrichter, vermutlich wegen den fehlenden Seitenlinien. Das kann ja heiter werden...

Die Stimmung im fast ausverkauften Stadion, ich meine natürlich Halle, ist grossartig. Sprechchöre und Kuhglocken ertönen, Stoffbanner mit Namen und Nummern der Teilnehmer wurden aufgehängt und werden geschwenkt.

Zwischendurch sorgen Kinder immer wieder für ein sauberes Spielfeld: Die Teilnehmer verlieren nämlich viel Material und hinterlassen überall ihre Spuren. Was im Tennissport die Ball-Jungen und -Mädchen sind, sind im Turniertanz die Strass-Jungen und -Mädchen bzw. die Feder-Mädchen und -Jungen.

Die Mannschaften bestehen in der Regel aus gemischten Zweierteams, es soll aber auch schon 3 und mehr Teilnehmer im gleichen Team gegeben haben, die überschüssigen Teilnehmer gut versteckt im weiblichen Mitglied. Dieser Vorteil gegenüber den anderen Mannschaften (bessere Bodenhaftung) wird normalerweise nicht geahndet.



Keine der Mannschaften hat sich auf ein einheitliches Erscheinungsbild einigen können. Die männlichen Teile der Teams scheinen nicht viel Wert auf ihr äusseres Erscheinungsbild zu legen, sie sind meist in Trauer, mit schwarzem Hemd und Hose, z.T. auch mit schwarzem Kittel, an dem ein in der Mitte geteiltes Anhängsel montiert ist, vermutlich wegen dem Gleichgewicht, eventuell auch als Gegenbalance zur Dame, das weiss ich nicht so genau. Die Frauen haben sich aber toll herausgeputzt.

Damit man herausfinden kann, wer zu wem gehört, klammern sich die Zweierteams oft aneinander und der männliche Teil hat eine Markierung auf dem Rücken in Form einer Nummer.

Im Moment hat es wie beim American Foot-und Basket-Ball Cheer-Girls auf der Fläche, die allerdings ziemlich konzeptlos in der Gegend herumfuchteln. Dazwischen schwirren männliche Mannschaftsteile hin und her. Es ist ein rechtes Durcheinander, die Cheer-Girls scheinen nicht an Harmonie untereinander interessiert zu sein...

Wie bitte? ... Ach so! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, soeben hat mir ein Zuschauer erklärt, dass dies die Lateinpaare sind, die sich eintanzen. Das kann man ja nicht wissen, oder?... Sie werden später dran kommen. Zuerst kommt das Übliche, auch Standard genannt.



Jetzt... - jetzt ist es soweit. Es beginnt. Die Mannschaften betreten den Rasen, ich meine natürlich das Spielfeld. Im Gegensatz zum Fussball werden die einzelnen Teilnehmer nicht von jungen Nachwuchs-Sportlern hereingeführt, nein, sie führen sich selbst herein, Hand in Hand. Allerdings ist nicht klar ersichtlich, wer wen führt.

Es sind 9 Mannschaften, sie werden einzeln vorgestellt. Auf das Spielen der Nationalhymnen wird verzichtet. Auch werden keine Fähnchen ausgetauscht. Die Kapitäne der Mannschaften, man weiss nicht auf Anhieb, welches Teammitglied das ist, ich habe mir aber sagen lassen, dass dies von Fall zu Fall verschieden ist, also die zuständigen Kapitäne oder Kapitäninnen begrüssen nicht einmal wie üblich mit Handschlag die Linienrichter. Eigenartig.

Jetzt geht es los. Musik ertönt, es kommt noch mehr Stimmung auf. Offenbar kann jede Mannschaft anfangen, wo und wann es ihr gerade passt. Die Mannschaften bewegen sich im Gegenuhrzeigersinn. Da keine Mittellinie vorhanden ist, gibt es viele Geisterfahrer. Wenn das nur gut geht...

Ich habe mir sagen lassen, dass es weder darum geht, ein Tor zu schiessen, noch darum, schnellstmöglich eine Runde zurückzulegen. Es geht darum, Markierungen zu ergattern (Fachsprache: Marks). Wie genau die Mannschaften markiert werden, entzieht sich meiner Kenntnis, vielleicht wird das demnächst ersichtlich.



Da, Paar Nr. 17 hat einen ganz gemeinen Body-Check vollzogen, Paar Nr. 12 kann sich kaum mehr auf den Beinen halten, das gibt es ja nicht. Die Linienrichter verziehen keine Miene!

Und dort, Fussfehler bei Paar Nr. 15! Im Fussball würde das eine gelbe Karte geben. Hier hat es offenbar keine Konsequenzen.

Unglaublich: Paar Nr. 13 ist ausser Takt. Auch das gibt keine gelbe Karte. Erstaunlich!

Was ist denn dort los? Ein Gerangel, ein Knäuel. Nr. 16 wird von Nr. 11 und 18 eingeklemmt. Ist das erlaubt? Offenbar. Jetzt kommt auch schon Paar Nr. 13 dazu. Crash! Voll gerammt! Das Publikum pfeift. Aber dank der Kollision kann Nr. 13 immerhin im Takt weitertanzen.

Die Linienrichter machen fleissig Notizen. Wahrscheinlich gibt es für jeden Fuss-und Taktfehler und für jede Kollision Abzüge.





Das weibliche Teammitglied von Paar Nr. 14 geizt nicht mit ihren Reizen. Jetzt blinzelt sie auch noch provozierend auf den Linienrichter Nr. 5. Der schaut ja nicht mal hin. Das war ein Eigentor.

Paar Nr. 13 ist schon wieder ausser Takt, jetzt wäre eine zweite gelbe Karte fällig und gäbe im Fussball Platzverweis. Aber hier hat es, zumindest im Moment, keine Auswirkung. Ein Linienrichter schaut zwar etwas verdutzt aus dem Anzug, rausgenommen wird das Paar aber nicht. Das Ganze ist doch schwerer zu durchschauen als erwartet...

Was macht denn Nr. 12? Eine doppelte Doppelkreisel-Drehung und erst noch mit Rechtsneigung. Das kann ja nicht gut gehen. Der Trainer am Spielfeld-Rand verwirft die Arme, tobt... zu spät, die Dame ist von den Absätzen gekippt und liegt am Boden. Jetzt müsste doch das Spiel unterbrochen werden! Aber es sind keine Sanitäter in Sicht, auch keine Bahre. Und die Dame steht schon wieder. Allerdings bin ich froh, dass der Blick, den sie ihrem Partner zugeworfen hat, nicht mir gilt...



Also das gibt es ja nicht! Jetzt hat der Kapitän von Nr. 11 (bei Nr. 11 sieht man deutlich, wer der Kapitän ist) eindeutig ein gestrecktes Bein gehabt, ein vorbeitanzendes Paar wäre beinahe darüber gestolpert. Kein Mensch kümmert sich darum. Die Linienrichter schauen demonstrativ weg. Das kommt davon, wenn kein Schiedsrichter auf dem Spielfeld ist!

Bei Nr. 17 stimmt die Bewegung und die Harmonie. Auch weicht es geschickt den anderen Mannschaften aus. Jetzt sind sie in einer Promenade. Aber, oh Schreck, ihre Blicke gehen eindeutig ins Offside. Irgendwie sieht es noch gut aus. Aber es ist halt trotzdem Offside.

Der Herr Nr. 16 ist nicht mehr so herrlich wie auch schon. (Leise: Wo habe ich noch meine Liste mit den Ausdrücken? Hier ist sie. Mal sehen, was da passt:) Er tanzt ohne Biss und Schwung, ohne grossen Aktionsradius, hat eine lange Mängelliste, bastelt weiter an seiner nicht vorhandenen Auswärtsform. Ein Wunder, dass er keine Schwalbe macht! Auf alle Fälle sollte er ausgewechselt werden. Aber kein Ersatzspieler ist in Sicht. Wo ist der Trainer? Ah, dort. Aber was tut er? Er schwatzt mit einem der Linienrichter - genau wie im Fussball!

Nr. 12 scheint genug zu haben, zumindest das männliche Mannschaftsmitglied: Jetzt wirft der doch einfach die Dame weg (der Fachausdruck lautet: throw away oder so ähnlich). Dass sie nicht in den Zuschauern landet, verdankt sie nur ihrem verzweifelten An-den-Partner klammern. Schöner Partner das!

Die Linienrichter werfen sich jetzt immerhin einen vielsagenden Blick zu. Und die Vor-Runde ist vorbei.

Ich bin gespannt auf die Finalrunde. Darüber werde ich später berichten. Zuerst werde ich versuchen, die Dame Nr. 14 für ein Interview heranzubitten bevor sie in die Garderobe verschwindet. Also, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer: Bleiben Sie am Ball, äh, ich meine natürlich am Radio..."

Michael Scherer







back