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Hommage für

Walter & Marianne Kaiser


Exklusiv-Interview mit Walter Kaiser



Donnerstag, 27. Mai 2004, bei Erika und Valdemaro Santi



Teil 1: Einleitung von Evelyne Scherer

Vom Schneebesen zum Zepter

Walter Kaiser, der Konditor-Lehrling, hantiert geschäftig mit dem Schneebesen. Der Zuckerguss für die bestellte Hochzeitstorte ist bald fertig. Kandierte Veilchen und das Brautpaar in Schwarz-Weiss, der Abschluss der Dekoration liegen bereit. Bald werden viele Hochzeitsgäste das Kunstwerk mit „Ah!“ und „Oh!“ bestaunen und ein überglückliches Brautpaar wird mit vereinten Kräften im Blitzlicht der Fotografen die Torte anschneiden... Walters Gedanken schweifen ab. Ein Sonnenstrahl beleuchtet soeben wie ein Scheinwerfer das Brautpärchen auf der Torte. Hat da nicht eben der Schwarzbefrackte zu seiner in weissem Tüll gehüllten zierlichen Partnerin hinübergeblinzelt? Zur Antwort dreht sie eine überraschende Pirouette, versinkt elegant in einem tiefen Knicks. Ein zart hingehauchter Handkuss, eine Verbeugung des kleinen Tänzers, nennen wir ihn doch Walter, und schon tanzen die zwei im Wiener Walzer rund um den obersten Teil der Torte herum, auf beschwingten Füsschen, in der frischen Glasur feine Spuren hinterlassend wie in frisch gefallenem Schnee. Er packt seine graziöse Partnerin, nennen wir sie doch Marianne, fest bei der Taille und sie springen beide federleicht von der Torte auf den Tisch. „Platz da! Wir wollen tanzen! Alle Schüsseln und Schneebesen weg, wir brauchen Platz für unseren Walzer!“ Wie sie sich drehen und schwingen, wie sie die Bewegungen geniessen, die Freiheit auf der Tanzfläche, ihre Harmonie, das Zusammenspielen ihrer Gefühle, das Verschmelzen in Rhythmus und Tanzrausch...






„Waltèèr! Was tust du da? Hör auf zu träumen! Bist du bald fertig mit der Torte?“ Seufzend kehrt der Lehrling in die Realität zurück. Er setzt vorsichtig das Braut-Tanz-Paar zur Krönung auf die Torte, verteilt die letzten Zuckerveilchen auf den glitzernden Guss. Fertig ist der süsse Hollywood-Tanz-Torten-Traum. Verschwunden sind die Scheinwerfer, das staunende Publikum, beendet die Tanzeinlage à la Fred Astaire. Die Realität hat Walter wieder eingeholt. Niemand klatscht Beifall, weder dem Tanzpaar, das nun regungslos dasteht, noch dem Geschichten-Ausdenker Walter, der doch so gerne wie sein Vorbild statt der mehlverstaubten Schürze einen Frack anhätte, statt der mit Staubzucker bestäubten Haarsträhne auf der Stirn mit einer eleganten Frisur und dem Zylinder in der Hand sich nach der Film-Aufnahme des letzten Tanzes mit der gertenschlanken, graziösen Partnerin hinter den Vorhang entschwindet, mit der Gewissheit, dass Tausende und Abertausende von tanzbegeisterten Leuten die Kinokassen stürmen werden, um sich verzaubern zu lassen und um den gewöhnlichen Alltagstrott zu vergessen.



„Hättest du gerne mehr Pasta?“ Die Frage reisst mich aus meinen eigenen Träumen heraus. Da bin ich wieder! Der „Arbeitslunch“ bei Erika und Valdemaro Santi entpuppt sich als feines Essen. Wir werden auf der ganzen Linie verwöhnt!

Uns gegenüber sitzt unser Interview-Partner, Walter Kaiser höchstpersönlich. Eigentlich wollten wir erst nach dem Essen mit dem Interview beginnen, sorgfältig von Michael geplant, mit Mikrofon und langer Fragenliste. Aber unser sympathisches Gegenüber mit den ungezähmten Haarsträhnen, den beim Erzählen tanzenden Händen und dem alles durchdringenden, warmherzigen Blick hat uns schon bei seinem schwungvollen Eintreten wie ein hereinfegender Windstoss im Nu in seinen Bann gezogen, und wir haben ihn sogleich ins Herz geschlossen.

Die alten Erinnerungen sprudeln nur so aus ihm heraus. Obwohl wir uns noch nie begegnet sind, können wir uns genau vorstellen, was er erzählt, da er viele Namen nennt, die uns bekannt sind und da er uns gedanklich an Orte entführt, die wir schon vor Jahren besucht haben: Hammersmith – Palais, Royal Albert Hall, Blackpool...

Schnell tausche ich Kugelschreiber und Notizblock gegen Messer und Gabel, ärgere mich, dass ich schon wieder eine interessante Bemerkung von Walter Kaiser nicht notiert habe.

Nach dem Essen stutzt Walter Kaiser doch ein klein wenig, als Michael das Mikrofon vor ihm aufbaut. Bald ist jedoch das Aufnahmegerät vergessen. Die Erinnerungen vom märchenhaft anmutenden, aber mühsam erkämpften Weg vom wissbegierigen Tanzstundenassistent, Taxi-Dancer, fleissigen Lernenden der Technikbücher, Tanzlehrer und Turniertänzer lassen seine Augen leuchten. Wir erleben, wie der junge Walter Kaiser zunächst in Zürich bei Herrn Massmünster anklopft und dort zum Tänzer ausgebildet werden möchte, wie er abgewiesen wird, wie er um den Häuserblock herumspaziert und mit neuem Mut, Durchsetzungskraft und überzeugenden Argumenten dann doch in der Schule aufgenommen wird.

Valdemaro hat ja so Recht: Walter hat die Begabung eines orientalischen Geschichten-Erzählers. Man vergisst alles um sich herum, man reist mit ihm nach London, wo Guy Howard merkt, dass hier ein viel versprechender junger Mann mit einer vielleicht grossen Zukunft vor ihm steht, er nimmt sich seiner an, stellt ihn überall vor, öffnet ihm alle Türen. Walter nimmt uns in Gedanken mit in die Royal Albert Hall, in Tanzstudios, in denen bekannte Trainer damals und teilweise heute noch unterrichten, nach Zürich, an Turniere. Hat man alles erfahren, wird man hungrig auf mehr...



„Wie war das, Walter, als du Weltmeister wurdest? Inwiefern veränderte das dein Leben?“ Michael konsultiert seinen Fragenkatalog, der sich wie ein roter Faden durch Walters Leben schlängelt, ein Erlebnis nach dem andern wie Perlen auf einer Schnur aufreihend. Walter steht kurz auf, total in Erinnerungen versunken. Einer unhörbaren, inneren Melodie folgend tanzt er mit einer unsichtbaren Partnerin. Wir merken erst jetzt, wie lange wir schon bewegungslos und gespannt zugehört und um den Tisch gesessen sind. Und wir erfahren, dass ein Märchen wahr werden kann, dass es aber nicht zwingend ein glückliches Ende finden muss. Wir erfahren vom grossen Glück, wie es ist, wenn man als Weltmeister eingeladen wird, an Tanzkongresse, für Tanzdemonstrationen und an internationale Turniere. Man wird im Ausland verwöhnt, mit Ehren überhäuft, die Tanzschule zuhause kann sich vor Anmeldungen kaum retten.

Der märchenhafte Aufstieg und der Erfolg, die damit verbundene intensive Arbeit kann eine Beziehung zusammenschweissen, stärken oder sie kann daran zerbrechen, was bei Kaisers letztlich leider der Fall war.

Nach einem Schluck aus dem Wasserglas erzählt uns Walter von seinem Leben danach, dem neuen Leben in Südfrankreich. Der grosse „Tanzkaiser“, der einst die Tanz-Welt regiert und dem das Publikum zugejubelt hat, der die Zuschauer in der TV-Sendung „Darf ich bitten?“ zum Tanzen aufgefordert und der sogar Professional-Europameisterschaften organisiert hat, erzählt nun vom erholsamen Landleben, von den Tänzern in seiner neuen Heimat, die in ihm eine ganz neue Tanzbegeisterung geweckt haben, die ihm eine Tanzart vormachen, die ohne Technikbuch auskommt, ohne Wertungsrichter, Schlagzeilen, Goldmedaillen und Titel. „Nirgends wie in Südfrankreich wird der Paso Doble so gerne und viel getanzt“ erzählt Walter, „und im argentinischen Tango versucht jeder Tänzer seine Gegner auszutrumpfen, um die besten Tänzerinnen auf der Fläche zu erobern.“ Wettkampf kann eben ohne Wertungsrichter stattfinden. Dem argentinischen Tango widmet er sich seit einigen Jahren sehr intensiv.

Während Walter mit grosser Leidenschaft vom Tanzerlebnis zu Zweit schwärmt, vom Geben und Nehmen, vom Improvisieren, vom Tanzen mit Herz, vom Tanzen mit und zur Musik, die die Bewegungen leitet und Gefühle weckt, so weiss man, dass seine Füsse beim Erzählen darauf brennen, so schnell wie möglich wieder zuhause zu sein, um im eigenen Saal mit Erika Hansen eine neue Kombination auszuprobieren. Es ist unglaublich und faszinierend: Uns gegenüber sitzt ein Vollbluttänzer, der lebt um zu tanzen. Achtung: Seine Leidenschaft ist äusserst ansteckend! Ich glaube sein im Prospekt gepriesenes „Ferienparadies in Südfrankreich“ ist in Wirklichkeit ein „Tanzparadies“. Walter verfügt über ein über Jahrzehnte lang angehäuftes Wissen. Wie ein Alchemist hat er mit viel Erfahrung und Ausdauer im stillen Mas Vinson-Tanzsaal unermüdlich alle für den Tanz (mit einem sehr grossen T) erforderlichen Zutaten geprüft, gemischt, geläutert, filtriert, analysiert, ausprobiert, ist bis ins Innerste der Materie vorgedrungen, und ist dennoch nicht am Ende seiner Forschungen angekommen. Was könnte er der Welt nicht alles beibringen!



Und wieder zaubert der Geschichtenerzähler neue Kulissen vor unsere Augen, diesmal weite Landschaften, Düfte und Melodiefetzen durchströmen den Raum, wir hören die Schafe blöken, den Hund bellen, die Hühner gackern. Wir fühlen die warme südfranzösische Sonne, die über die Rebfelder scheint, die das verträumte Dörfchen Moulézan zwischen Alès und Nîmes umgeben. Seit 1981 wohnt Walter in MAS VINSON, in einem der drei Wohngebäude mit Park und Wiesen, alten Bäumen und vielen romantischen Plätzchen zum Verweilen, mit Gartenpavillon und Cheminée für Grillabende, mit Swimmingpool und Spielwiese.

Mit dem grösstem Respekt hören wir alle zu, denn wir haben noch viel von ihm zu lernen und zu begreifen, von einem Mann, der immer wieder bescheiden in Erinnerung ruft, dass er nur aus einfachen Verhältnissen stammt... Er ist ein sehr weiser Mann, der sich nirgendwo aufdrängen will, der aber offen auf alle Menschen zugeht, der jedem seiner Gegenüber das Gefühl gibt, wichtig zu sein, der das Rad der Zeit nicht zurückdrehen möchte, der weiss, dass es noch so viel Wichtiges und Schönes zu sehen, zu erleben und zu lernen gibt, auch wenn einem die Haare grau werden und der Körper nicht mehr ganz so will wie früher. Den Philosophen Walter scheint das nicht zu stören.

So schnell wie einige Jahrzehnte aus Walters Leben an uns vorbeigezogen sind, so rasch ist der Nachmittag vorbei. „Kommt mich mal nach Südfrankreich besuchen!“ Und weg war unser neuer Freund...

Evelyne Scherer



Teil 2: Ausschnitte aus dem mehrstündigen Interview

Das Exklusiv-Interview mit Walter Kaiser

Michael Scherer: „Herr Kaiser, morgen fangen die diesjährigen Open British Championships in Blackpool an und Sie können das 40-jährige Jubiläum Ihres grossartigen Erfolges von Blackpool feiern, wo Sie und Marianne Kaiser die ersten und einzigen Schweizer Open British Professional Latin American Champions wurden. Sowohl zu Ihrem Erfolg wie auch zum Jubiläum möchten wir Ihnen sehr herzlich gratulieren...

Darüber, wie Sie zum Tanzen gekommen sind und die Zeit mit Marianne Wolff haben Sie uns am Mittagessen schon viel erzählt. Wie ging es weiter?“

Walter Kaiser: „Nach der Trennung von Marianne Wolff war ich viel in England und habe mein Fellow-Diplom bei Eric Hancox in Manchester gemacht, in Ballroom (Standard). In England habe ich auch die neue Tanzart von Doris Lavelle und Pierre kennen gelernt (Cuban Rumba)… Pierre war auch mein Examiner in Latein...“



Walter Kaiser erzählt uns, dass er 1958 seine spätere Ehefrau Marianne Kopf kennenlernte, im gleichen Jahr die Tanzschule von Frau Hugentobler in Zürich übernahm, Marianne Kopf ihre Ausbildung bei Eric Hancox in Manchester machte und Walter und Marianne Kaiser 1960 ihre erste Weltmeisterschaft in Berlin tanzten.



MS: „Sie haben Standard, Latein und Kombination getanzt, waren in allen Sparten sehr erfolgreich und haben in den lateinamerikanischen Tänzen alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt: Europameisterschaft, Weltmeisterschaft, Blackpool, um nur die Wichtigsten zu nennen. Wie oft haben Sie trainiert?“

WK: „Sehr viel... Wir haben auch sehr bald englische Trainer nach Zürich kommen lassen (u.a. Len Scrivener). Baumanns kamen dann jeweils um 11h, Santis um 13h in die Stunden, teils zu den englischen Trainern, teils zu mir. Ich machte den Paaren sehr schnell klar, dass sie in der Schweiz gewisse Aspekte des Turniertanzens nicht lernen könnten, dass sie nach London müssten, in die Szene, in die Atmosphäre, in alles, was zum Turniertanzen gehört…“

MS: “1964 wurden Sie in Blackpool Open British Professional Latin American Champion. Wie haben Sie das erlebt?“

WK: „Wir haben Blackpool 3 x gewonnen, 1962, 1963 und 1964. 1962 und 1963 war es ein Tournament, ab 1964 war es eine Championship. Es war fantastisch. Ab dann stand einem die Welt offen. Man war akzeptiert. Marianne war sehr, sehr beliebt in England.

Wenn du Blackpool gewinnst, gibt es eine Unmenge Möglichkeiten und Anfragen: Fernseh-Shows, Interviews, Lectures, es bringt viel Prestige und Geld.

Als wir angefangen hatten, Latein zu tanzen (1960 gingen wir von Hancox weg), brauchten wir einen guten Latein-Trainer. Bill Irvine empfahl mir Nina Hunt. Nina Hunt konnte gut unterrichten, war charmant, Bill und Bobbie waren sehr zufrieden. Daraufhin haben wir Blackpool gewonnen. Aber ehrlicherweise muss man gestehen, dass wir nicht gewonnen hätten, wenn Laird auch getanzt hätte. Aber er kam nicht…“

Valdemaro Santi: „Walter Laird hatte ein Zerwürfnis mit der Organisatorin von Blackpool, Mrs. Ilett, er wollte Geld, sie wollte nicht bezahlen, scheinbar...“

WK: „Apropos Laird: Laird bewegte sich anders als alle anderen Top-Paare dieser Zeit, er war allen anderen weit voraus. Er und Lorraine waren nicht nur sehr gute Tänzer, sondern konnten ihre Bewegungsmuster auch ausgezeichnet weitergeben. In Deutschland wurden wir im Cha Cha Cha häufig, auch manchmal in der Samba vor Laird gewertet… In Deutschland hat der Turniertanz andere Wurzeln als in England. Lorraine und Laird passten den Deutschen nicht. Lorraine war so sinnlich, die Deutschen haben dies als vulgär empfunden..."

Valdemaro Santi: "Lorraine hat sehr gut ausgesehen. Sie ist in Südafrika aufgewachsen, hat ein Auge dafür bekommen, wie sich die Schwarzen bewegen, kam zu Laird, der die Technik besass – da kam ein Resultat zu Stande, wo die anderen..."

WK: "...nur staunten, da hatte niemand eine Chance...

Ehrlichkeitshalber, von uns aus gesehen, war Laird eine Klasse besser.“



Ausschnitt aus dem Interview: Original-Stimme von Walter Kaiser

mp3-Audio-Datei, Länge 5 Sek., Datei-Grösse 100 KB

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MS: „Wer waren Ihre Trainer in dieser Zeit?“

WK: „Ballroom: Len Scrivener, Eric Hancox, Peter Eggleton, Wim Voeten (Futen ausgesprochen). Latin: Nina Hunt. Die Arbeit mit den Trainern war eine kreativ-gute Zusammenarbeit, die uns sehr viel gegeben hat.“

MS: „Wo haben Sie am liebsten getanzt?“

WK: „Die schönsten Turniere waren in London, in England. In Blackpool, International, Star Ball. Auch die Turniere in Deutschland in Berlin. Wir waren 3x an der Funkausstellung.“

MS: „Sie waren für Tausende Turniertanzbegeisterte Vorbild. Hatten Sie selbst auch noch Vorbilder?“

WK: „Anfangs der 60er-Jahre kamen Amerikaner, die sehr beeindruckend waren, mit anderem Stil. Aber wir sind unseren Weg weitergegangen, mit englischem Stil.“

MS: „Hatten Sie einen oder mehrere Lieblingstänze?“

WK: „Lieblingstänze kamen und gingen. Für mich persönlich war Tango schon ein Lieblingstanz.“



MS: „Wie haben Sie sich auf Ihre Auftritte vorbereitet? Was war Ihre Tanzphilosophie?“

WK: „Was wir viel geübt haben ist das Durchtanzen, etwas Kondition, und locker bleiben. Und für den anderen zu tanzen. Ist dir wohl? Ist meine Mittellinie da? Stimmt es für meine Partnerin? Kann ich es nur für 10 Sek. behalten oder kann ich es beibehalten?

Je höher das erreichte Tanzniveau ist, desto weniger tanzt man mit Kraft. Man kontrolliert die Atmung, man geht haushälterischer um...

Es war auch ein grosser Unterschied, ob wir in England oder Deutschland gestartet sind. In Deutschland hatten wir, bedingt durch die offene Wertung, einige Minuten zum Erholen. Ganz anders jedoch in England: im Final folgten die Tänze Schlag auf Schlag. Es blieb nur kurze Zeit zum Durchatmen und um locker weiter zu tanzen. Auch das musste trainiert werden. Lernen auf unterschiedlichen Böden zu tanzen.

Wir hatten auch Spannungen untereinander. Es ist ein Unterschied, ob man ‚nur’ ein Tanzpaar ist, oder gleichzeitig auch ein Liebespaar ist. Auch, ob man als Amateur oder Professional tanzt. Ein Professional, der Turniere tanzt, muss mit der Zeit einen Leistungsausweis vorweisen können, Resultate erzielen, sonst ist es eher kontraproduktiv.

Die Harmonie war bei uns auch nicht immer da, aber wir haben gelernt, das zu überspielen. Wir haben gelernt, uns auch bei Spannungen sachlich auf das Tanzen zu konzentrieren. Ich tanze für dich, und du tanzt für mich. Sogar an der Weltmeisterschaft, als wir gewannen. Die Finalrumba z.B. entsprach nicht unseren Vorstellungen, aber der Radiosprecher sagte: ‚Die Kaisers – eine Harmonie!’

Wenn ich zurückdenke, bin ich etwas neidisch auf die heutigen Turnierpaare mit ihren Möglichkeiten psychologischer Betreuung, Möglichkeiten, die wir nicht hatten oder nicht kannten. Die Trainer haben sich zwar sehr bemüht, aber konnten nicht auf allen Ebenen helfen.“

MS: „Lässt sich Ihr Tanzstil charakterisieren?"

WK: „In der Rumba schon. Nina Hunt brachte uns die Cuban Rumba bei. Auf dem Kontinent tanzte man nach wie vor die Square Rumba… Wir haben den englischen Stil auf dem Kontinent so getanzt, dass er ihnen gefallen hat und damit mitgeholfen, dass er sich durchsetzen konnte.“

MS: „Welche Ihrer vielen tänzerischen Stärken war besonders ausgeprägt? Wir haben schon von Ihren schnellen und rhythmischen Füssen gehört."

WK (überlegt lange): „Wir waren einfach gut fürs Publikum. Breuer hat gesagt: Du tanzt mit Herz. Das habe ich nie verloren.“



MS: „Wann wurde aus Tanzen Sport?“

WK: „1955 – 58 wurde in Deutschland bereits versucht, die Anerkennung von Tanzen als Sport zu erlangen. Ärzte wurden hinzugezogen, Messungen vorgenommen, die berühmten Vergleiche mit den Kurzstreckenläufen der Leichtathleten stammen aus dieser Zeit.

Aufgrund dieser Tatsachen wurde das Tanzen in Deutschland als erste Nation als Sport anerkannt, verbunden mit entsprechenden finanziellen Leistungen und allem Drum und Dran. Dies führte auch zu einer Auffassungsänderung über die Programmzusammenstellungen, d.h. ab dann wurden mehr Posen getanzt. Nachdem früher die Devise galt: 'it has to feel good', lautete die Devise ab dann häufig: 'it has to look good'. So fing es an…

Die Haltung der heutigen Standardtänzer ist falsch. Die Bestätigung dafür erhalte ich u.a. dadurch, dass ich mich viel mit Bewegungstherapie und Feldenkreis beschäftige. Es ist völlig unverständlich, dass sich trotz den heutigen neusten Erkenntnisse über den menschlichen Körper und das menschliche Skelett diese Haltung beibehalten wird.

Es ist nicht verwunderlich, dass sich viele über das heutige Turniertanzen mokieren. Jedes geschulte Auge sieht sofort, dass da etwas nicht stimmt. Die Achse stimmt nicht mehr, die Balance ist nicht mehr vorhanden. Die unnatürliche Haltung muss mit unverhältnismässiger Muskelspannung aufrecht erhalten werden.

Nicht so im Latein, in dem die Haltung deutlich natürlicher geblieben ist.“



MS: „Die Schweizer und internationale Turniertanzszene verdankt Ihnen (und beiden Marianne Kaisers) unglaublich viel: Als Turnierpaar, Showpaar, Champions, Turnier- und Meisterschaftsorganisatoren, Trainer, Wertungsrichter haben Sie sich um den Schweizer Tanzsport verdient gemacht wie kaum ein Zweiter. Die Kernjahre scheinen dabei von 1960 bis Mitte der 70er-Jahre gedauert zu haben. Plötzlich haben Sie sich daraus zurückgezogen, gingen nach Südfrankreich. Darf man die Gründe wissen?“

WK: „Ich habe den Erfolg sehr schlecht verarbeitet und kam immer mehr in Schwierigkeiten mit mir selbst. Ich kam in eine Lebenskrise und hatte keine Freude mehr am Tanzbusiness. Ich habe etwas Neues gesucht, wollte mein Leben verändern. Nach 8 Jahren habe ich mich von Marianne (Kaiser-Bingel) getrennt, eine neue Frau kennen gelernt, eine Familie gegründet. Wir haben einen Sohn bekommen. Bis 15 ist er in Frankreich aufgewachsen.

In Südfrankreich habe ich ein altes Weingut gekauft und habe ein Zentrum gegründet, für Menschen, die etwas Spezielles suchen. Wir haben angefangen mit dem Schweizerischen Studentenreisedienst, haben Seminare mit Nikon veranstaltet, Erfahrungsgruppen beherbergt, auch Leute vom Tanzen. Frau Colombo kam einmal mit einer Gruppe.

Der Grund für die Umstellung war eine Ausgelaugtheit. Ich wollte etwas Neues machen.

Bereits 1975 habe ich mich vom Turniertanz verabschiedet, habe ab dann keine Turnierpaare mehr unterrichtet.

Der Grund, warum auch immer wieder Tanzlehrer nach Südfrankreich kamen, waren verschiedene Tänze aus Südfrankreich. In Südfrankreich ist u.a. der Paso Doble sehr beliebt. Er wird jedoch in Marseille völlig anders interpretiert und getanzt als der gängige Turnier-Paso Doble, der in England entwickelt wurde und der seit Jahrzehnten in unseren Tanzschulen keinen Erfolg hat.

Ich habe dann diese Tänze (Paso Doble, Java, Musette etc.) gelernt, die sich vom Stil her sehr gut eignen für Hobby-Tänzer. Es ist nicht anstrengend, man kann sehr gut auf die Musik hören, die Bewegungsabläufe sind nicht komplex, man kann sich entsprechend auf das Wesentliche konzentrieren, und es ist sehr körperbetont, eng, Happening, Feeling, Adrenalin-Ausstoss, das gemeinsame Gefühl steht im Vordergrund. Es ist wunderschön und sehr nahe beim Tango Argentino. Da gibt es eine Verbindung.

Diese Tänze habe ich in Fürigen, am Kongress der Schweizer Tanzlehrer gezeigt und auch 2 Workshops in Südfrankreich durchgeführt. In der Folge kamen immer wieder interessierte Tanzlehrer auch einzeln nach Südfrankreich.

Ich bin also nie ganz vom Tanzen weggegangen, bin immer wieder zurückgekommen."



Ausschnitt aus dem Interview:

mp3-Audio-Datei, Länge 1.21 Min., Datei-Grösse 1.6 MB



MS: „Was halten Sie vom heutigen Turniertanz? Was gefällt Ihnen?“

WK: „Das ist schwer zu beantworten, da ich nicht mehr in der Turnierszene bin. Ich sehe zwar ab und zu Turniere am Fernsehen, auch besucht uns Nicole Burns-Hansen immer wieder und erzählt und zeigt vom Turniertanz. Was ich an Latein sehe beeindruckt mich sehr.

Mir gefällt es, wenn ein Paar anmutig tanzt, fliessend, wenn die Bewegungen stimmen und es mich anspricht, dann bin ich begeistert... Ich sehe viele schöne Paare, die zusammenpassen. Das ist ein wichtiger Aspekt im Turniertanz... Viele Partnerinnen bewegen sich unwahrscheinlich graziös, unwahrscheinlich leichtfüssig.“

MS: „Was vermissen Sie?“

WK: „Der heutige Turniertanz passt nicht mehr in unsere Welt. Ich habe gehört, dass die Tanzschulen in Europa Mühe haben, Foxtrott zu unterrichten. Es will niemand mehr Foxtrott lernen. Heute ist bei den Jüngeren Salsa, Reggae, ev. noch etwas Jazz mit Rock, Swing, der alte Swing von Elvis Presley, etwas Lindy Hop in. Die Älteren orientieren sich Richtung Tango (Argentino). Viele Tanzschulen werden dabei ausgelassen.

Wenn ich höre, dass Leute mit Reglementen gezwungen werden, einen Standardtanz zu lernen, damit sie Latein tanzen dürfen... Das ist doch das Hobby der Tänzer.

Als Vergleich der Reitbusiness: Es sagt doch niemand, wenn du Springen möchtest, musst du auch noch Dressur reiten, sonst kannst du nicht springen. Niemand will Dressur reiten, alle möchten springen.“

Evelyne Scherer: „Aber früher haben doch auch alle Standard und Latein getanzt.“

WK: „Aber dann war das Tanzen noch nicht so spezialisiert wie heute. Heute sind die technischen Anforderungen dermassen hoch, dass man nicht noch Foxtrott und Heelturns lernen kann. Das ist eine ganz andere Welt.“

Valdemaro Santi: „Und dann kommt dazu, dass die Musikentwicklung, die Bewegungsentwicklung vom Mensch von den klassischen Standardtänzen immer mehr wegdriftet. Das Standardtanzen bleibt ein klassischer Bereich, der immer mehr quasi historisch wird. Und nicht mehr aktuell. Wie Walter gesagt hat: Das Modell der klassischen Tanzschulen funktioniert so nicht mehr."

WK: „Heute die jungen Leute drillen zu wollen, ist sehr schwer. Im Latein kann ich mir noch vorstellen, dass Mädchen und Jungen sich sagen, ich will Latein lernen, ich kann mich dort ausdrücken. Aber sie könnten auch Eislaufen oder wunderbare asiatische Kampfformen lernen. Da gibt es traumhafte Alternativen. Das gab es früher nicht.“



Ausschnitt aus dem Interview:

mp3-Audio-Datei, Länge 2.28 Min., Datei-Grösse 2.9 MB



MS: „Was ist Ihnen in besonderer Erinnerung geblieben als Turnierorganisator?“

WK: „Da habe ich schöne Erinnerungen an grosse Turniere im Kongresshaus, bei denen ich alles von A-Z organisiert habe. Z.T. gab es Live-Übertragungen am Fernsehen. Nach englischem Vorbild habe ich einen minutengenauen Zeitplan aufgestellt. Die Presse und die Fernsehleute haben gestaunt. Das war ein Novum in der Schweiz. Schweizermeisterschaften und Kaiserbälle, wir haben sehr viel organisiert. Bis dann der Neid der anderen aufkam...

Fernsehsendung 'Darf ich bitten': 1961 gingen wir zum Fernsehdirektor und haben ihm eine Fernsehsendung vorgeschlagen. Uns schwebte ein Tanzkurs am Fernsehen vor, mit einem Pianisten und Ansprache an die Zuschauer: „Meine Damen und Herren, vielleicht gehen Sie am Samstag aus. Wir wollen heute Abend etwas Foxtrott lernen.“ Innert drei Monaten stand die Sendung. Ursprünglich sollte Mäni Weber die Tanzsendung moderieren, aber nach der Probesendung stand fest: Das geht ebenso gut mit Herrn Kaiser. In der Folge wurde unsere Tanzschule mit Tanzschülern überschwemmt, 1962 / 1963, es war unglaublich.“

Valdemaro Santi: „Es gab Verkehrsampel-Signale bei den Tanzschul-Eingängen, um dem Ansturm Herr zu werden…“



Ausschnitt aus dem Interview:

mp3-Audio-Datei, Länge 1.44 Min., Datei-Grösse 2 MB



WK: „Die Tanzschule lief und lief... Parallel dazu habe ich in Solothurn unterrichtet. Auch diese Kurse waren gerammelt voll... Das Schweizer Fernsehen reiste mit uns an Turniere in Deutschland mit, machte nur Aufnahmen, wenn wir auch tanzten. Sponsoren meldeten sich (Uhren, Kleider). Wir haben uns nicht immer richtig verhalten, die Möglichkeiten nicht alle ausgekostet. Da wäre ein Manager wirklich nötig gewesen.“

MS: „Was ist Ihnen in besonderer Erinnerung geblieben bzw. hat einen besonderen Stellenwert für Sie als Wertungsrichter?“

WK: „Der innere Konflikt von Ehrlichkeit. Hinter seinem Urteil stehen. Die Wertung selbst ist schon eingeengt. Wenn im Finale drei ebenbürtige Paare tanzen, alle mit einwandfreier Technik, muss man künstlich nach Gründen suchen, um sie platzieren zu können. Man sollte Noten geben können. Für mich persönlich ist es jedoch nicht messbar.“

MS: „Welcher Ihrer tänzerischen Erfolge hat für Sie den grössten Stellenwert?“

WK: „Der jetzige... Ich weiss es nicht wirklich... Alles was ich sagen kann ist, dass ich den Erfolg mit Marianne (Kaiser-Kopf) seelisch-menschlich nicht wirklich geniessen konnte. Durch den Druck im Turniertanz, man muss gut sein, man muss Ellbogen haben - das ist nicht vereinbar mit dem Tanzen, wo Harmonie herrschen sollte. Es hat nicht zusammengepasst. Aber Freude hatte ich damals sicher.“



Ausschnitt aus dem Interview:

mp3-Audio-Datei, Länge 28 Sek., Datei-Grösse 555 KB



MS: „Würden Sie im nächsten Leben wieder Turniere tanzen?“

WK: „Ich würde gerne Musiker werden.“

MS: „Vielen herzlichen Dank für das Interview, für Ihre Geduld und die sehr interessanten Antworten.“






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