Die Gästeklasse
Ein dunkles Kapitel in der Geschichte des schweizer Tanzsports, heute dank der neuen schweizer Gesetzgebung undenkbar, da diskriminierend und ausländerfeindlich, damals offenbar problemlos möglich:
Bereits in den 1950er-Jahren lebten in der Schweiz einige ausländische Turniertänzer (vor allem aus Deutschland, z.T. mit Schweizerinnen bzw. Schweizern verheiratet), die an den Turnieren in der Schweiz immer vorne mitmischten. Die Vorstellung, dass bei einer gemeinsamen Schweizer Meisterschaft die Paare ohne schweizer Pass möglicherweise viele oder sogar sämtliche Spitzenplätze belegen würden, behagte den damaligen schweizer Spitzenpaaren und Funktionären jedoch nicht. Deshalb wurde auf Antrag eines Klubs (mit den besten schweizer Paaren) beschlossen, dass nur ein Paar Schweizer Meister werden kann, wenn beide Partner über einen schweizer Pass verfügen. Als kleiner „Trost“ für die Ausländer wurde in der Standarddisziplin eine „Gästeklasse“ gegründet. An den entsprechenden Schweizer Meisterschaften gab es in der Folge einen „Schweizer Meister“ und einen „Gästemeister“.
In der Lateindisziplin stand eine Trennung mangels Paaren nie zur Diskussion. In den Ranglisten stand dann „Gäste“ oder „ausser Konkurrenz (Ausländer)“.
„Gäste“ konnten Mitglieder der Schweizer Nationalmannschaft sein und die Schweiz an Länderkämpfen, Teamkämpfen und Einladungsturnieren vertreten, nicht aber an Welt- und Europameisterschaften.
In der Liste der „Gäste“ findet man Persönlichkeiten, die sich damals und später sehr für den Gesellschafts- und Turniertanz eingesetzt haben. Unter vielen anderen (alphabetisch):
- Peter und Traute Baas
- Roman und Jana Barfusz - später Deutsche Meister Professional Latein
- Geschwister Hubert und Irene Czarnowski - jetzt Hubert Scharmer und Irene Rothenfluh
- Jenö und Sheryl Havasy
- Friedel und Irma Husemann
- Günter und Ursula Rudack
- Rolf Schneider und Anita Spahn
- Mike und Brigitte Skrodzki
- Rudolf Trautz und M. Schärer - später mit Mechtild Trautz (seiner 14. Tanzpartnerin! – Quelle: Tanzen in Deutschland, Kastell Verlag) Weltmeister Professional Latein
Berichte über Schweizer Meisterschaften etc. aus dem In- und Ausland bedürfen keiner weiteren Kommentare:
1957
2. Mai 1957 Berner Tagblatt zur SM vom 27. April 1957 im Kongresshaus Zürich
Schweizer Meisterschaften im Gesellschaftstanz
Das Kongresshaus in Zürich war Zentrum des schweizerischen Gesellschaftstanzes. Im Rahmen einer Televisionssendung... Resultate:
Champions-Klasse:
1. Herr Trautz – Frl. Schärer (ausser Konkurrenz, da Herr Trautz Ausländer ist)
2. Herr Suter – Frau Ballo (ZTS Zürich) Schweizer Meister
2. Mai 1957 / CH-Tageszeitung dito
Tanz als Sport ist nichts zum Lachen
(mnop) Gewiss haben Sie sich auch schon auf die Tanzfläche begeben, um sich ein bisschen im Takte zu wiegen und, je nach Naturell, ein freundliches Gespräch zu führen, verbunden mit einem liebenswürdigen Lächeln. Aber im Tanzsport gibt es weder etwa zu lächeln noch zu lachen – nein, das scheint eine ernste Angelegenheit zu sein...
Obwohl es sich um eine Konkurrenz schweizerischer Teilnehmer aus Bern, Lausanne und Zürich handelte, erlaubte man doch einigen ausländischen Gästen, ausser Konkurrenz mitzutanzen, wären doch sonst, wie die Organisatoren behaupteten, zu wenig Paare zu finden gewesen (?).
So entstand schliesslich die etwas peinliche Situation, dass jenes Paar, das vom Wertungsrichter in allen Tänzen mit der besten Note bedacht wurde, Herr Trautz und Fr. Schärer, des Titels eines Schweizer Amateur-Meistertanzpaares 1957 nur deshalb verlustig ging, weil die Wiege dieses befrackten Herrn auf der anderen Seite des Rheins stand...
Tanz Illustrierte Juni 1957 (deutsche Tanzzeitschrift) dito
Die Schweizer Meisterschaften 1957
Die enge Nachbarschaft und, was noch mehr wiegt, die freundschaftlichen Bande zwischen den Tanzsportlern der Schweiz und der Deutschen Bundesrepublik wird durch eine interessante „Wertung“ während der „Schweizermeisterschaft“ (in der Schweiz schreibt man dieses Wort in einem) bekundet. Punktrichter Victor Barrett, London, zur Einstufung der zur Amateur-Meisterschaft im Kongresshaus in Zürich qualifizierten Paare bestellt, erhob ein Paar auf den ersten Platz, das nach der Turnierordnung nicht „Schweizermeister“ werden konnte – das Paar R. Trautz / Frl. M. Schärer, denn der männliche Partner ist Deutscher. Schweizer Amateur-Meister wurden als Zweite die bekannten Tanzsportler P. Suter / Frau Ballo.
1966
SATV-Kurier Nr. 2, April 1966
Züri Meisterschaft 1966 (Standard), Kongresshaus Zürich, den 26. März 1966
Wertungsrichter: August Musch, Stuttgart-Bad Cannstadt
Turnierleiter: Walter Kaiser, Zürich
Orchester: Aly’s. Bern
Anlässlich eines Mittelschülerballes der Tanzschule Kaiser wurde vom Akademischen Tanzklub Zürich die erste „Züri-Meisterschaft“ durchgeführt und damit für Zürich eine neue Tradition eingeleitet. Walter Kaiser hat einen grossen Pokal gestiftet und damit erneut zur Förderung des Amateur-Tanzsportgedankens beigetragen...
Die Grösse der Tanzfläche wurde leider den Programmen der fünf Endrundenteilnehmer nicht gerecht (oder sollte es etwa umgekehrt gewesen sein?). Jedenfalls wurde so häufig und kräftig kollidiert, dass der Zuschauer Mühe hatte, die bei den Paaren sonst schon gesehenen besseren Leistungen wiederzufinden. Der Wertungsrichter hat denn auch erklärt, dass er bei Sonderklassenpaaren mehr Raumdisziplin und Rücksichtnahme sehen möchte.
Das Ergebnis lautet:
1. und Züri-Meister 1966 Peter und Traute Baas
2. Ruedi und Rita Baumann
3. Albert Salzmann / Marianne Bingel
4. Jakob und Martha Huser
5. Waldemar und Erika Santi
1968
Tanz Illustrierte Dezember 1968
Vom Tanzschullehrer bis zum Professional-Weltmeister - die Rudi Trautz-Story
Rudolf Trautz ist 1936 in Nürnberg als Sohn eines Opernsängers geboren... So geht er in die Schweiz, zunächst nach Bern (4 Monate Training in der Tanzschule Schürch) und anschliessend nach Zürich. Dort bereiten ihn Albert und Trudi Schmucki auf den ersten Meistertitel vor. 1957 gewinnt er die Schweizer Amateur-Meisterschaft. Er darf den Titel aber – als Ausländer – nicht führen. Dennoch bleibt er bis 1958 im Land der Kantone und lässt sich bei Schmuckis theoretisch auf den Tanzlehrerberuf vorbereiten.
SATV-Kurier Nr. 3, Juni 1968
Dolderball des Akademischen Tanzklub Zürich / Dolderpokal: Offenes Turnier in den Standardtänzen
Zur Vorrunde um den Dolderpokal starteten 12 Paare, von denen sich 8 für den Halbfinal klassieren konnten. Dieser gestaltete sich besonders interessant, da zusätzlich zu den 8 Paaren noch 4 S-Klassenpaare mittanzten...
Endlich – es rückte gegen Mitternacht – betraten die letzten vier Paare zum Final um den Dolderpokal die Tanzfläche. Unter viel Applaus brachten sie die fünf Tänze in ausgezeichneter Manier hinter sich. Wie vorauszusehen war, wurde das Ehepaar Baumann aus Zürich Sieger, gefolgt vom Ehepaar Huser. Schade war, dass unser stärkstes S-Paar in den Standardtänzen, Peter und Traute Baas, nicht zur Konkurrenz antreten konnten. Bestimmt hätten sie dem Ehepaar Baumann den Sieg noch ein wenig schwerer gemacht... (J. Spichiger)
1995
Im Buch „Tanzen weltweit“ (Kastell Verlag 1995) erinnerte man sich noch drei Jahrzehnte später an die Gästeklasse in der Schweiz. Bei der Vorstellung von Roman Barfusz steht u.a.:
„Roman Barfusz wurde am 28. April 1948 in Prag geboren... emigrierte mit 19 Jahren (1967) illegal in die Schweiz... nach einer kurzen Zeit, während der er in einer speziellen Klasse für Ausländer tanzen musste, durfte er an den Schweizer Meisterschaften teilnehmen, die er danach mehrmals gewann...“
(Anmerkung: 4 Mal Schweizer Meister Latein, von 1972-75)
1970
Immerhin war die Kritik in den eigenen Reihen stets präsent. Im SATV-Kurier Nr. 1 vom Februar 1970 war unter dem Titel „Schweizermeisterschaften“ zur Frage „Gästeklasse ja oder nein“ zu lesen:
„Seit Jahren werden um diese Kapitel Polemiken gemacht. An fast jede Delegiertenversammlung des SATV kommt garantiert eine neue Idee. Jede Ansicht hat bestimmt etwas Positives, ohne allerdings die Ideallösung zu sein...
Die bisherige Regelung an den Meisterschaften lautete: Die Schweizermeisterschaften Standard, Latin und Kombination werden nur von Schweizern getanzt. Der Titel konnte also, in jedem Falle, nur einem Schweizer Bürger zufallen.
Parallel dazu liess man eine separate Meisterschaft der Gästeklasse laufen, in welcher die Ausländer unter sich waren. Es gab dann dadurch noch einen Schweizermeister! Den Schweizermeister der Gästeklasse! Das führte zu einer komischen Situation. Laienzuschauer sahen oder lasen von dem Schweizermeister Standard, Schweizermeister Latin, Schweizermeister Kombination, Schweizermeister Senioren und zu guter Letzt vom Schweizermeister der Gästeklasse. Selbst für uns Eingeweihte musste das zu einem Alptraum werden.
Anlässlich des Kaiserballes sahen wir eine neue Regelung: Es gab keine Senioren und keine Gäste mehr. Alles war schön und einträchtig beisammen. Die Bewertung konnte in der direkten Begegnung stattfinden und die unvermeidlichen Höhereinstufungen fielen automatisch weg...
Eine weitere Möglichkeit besteht, wenn Titelturniere prinzipiell offen wären. Also, wenn jeder in der Schweiz wohnhafte Turniertänzer den Titel ertanzen könnte. Massgebend dafür wäre die Aufenthaltsbewilligung der Behörden. Diese Einschränkung würde verhindern, dass gute ausländische Paare in die Schweiz kämen, um schnell den Titel zu gewinnen. Allerdings steht dann die Frage offen, wer vertritt unser Land an den Europa- und Weltmeisterschaften...
Die Ausrichtung einer zeitlich völlig separaten Meisterschaft der Schweizer- und Nichtschweizer-Turnierpaare ist zeitlich und organisatorisch sehr schwierig, weil der SATV jetzt schon Mühe bekundet, die Meisterschaften an den Mann zu bringen. Die SM sollte doch stets der absolute Höhepunkt aller Turniere sein. Man könnte hier allerdings noch etwas mehr Gerechtigkeit hineinbringen, indem man eine bestimmte Anzahl Qualifikationsturniere ausrichtet, welche massgebend für die Klassenzugehörigkeit sind, aber nicht für den Titel. Es kann doch ohne weiteres passieren, dass einem Paar durch eine Unpässlichkeit, Krankheit, Sturz, etc. die Klassierung nicht gelingt. Weil dieses Paar an einem Tag im Jahr indisponiert war, kann es eine oder mehr Klassen zurückfallen. Wahrscheinlich sind noch mehr Möglichkeiten vorhanden, welche dem Verfasser augenblicklich unbekannt sind. Es liegt an Ihnen! Durch die Bekanntgabe Ihrer Meinung wäre es den Delegierten und dem Verband möglich, eine bessere oder gerechtere Lösung zu finden. Der SATV-Kurier erwartet gerne Ihre Einsendungen. Bedenken Sie aber, dass wir nicht eine Lösung für heute, nur für ein Paar, oder einen einzigen Club zu finden haben, sondern die Lösung soll für Morgen sein und allein der Sache, also der Breitenentwicklung des Tanzsportes dienen.“ (HW)
Niveau und Sportlichkeit
Auch an der Latein-SM 1970 gewann ein Ausländer und der Zweitplatzierte wurde Schweizer Meister:
1. Ehepaar Jenö und Sheryl Havasy (Turniersieger)
2. Kurt Mandelz / Ursula Arni (Schweizer Meister)
Kurt Mandelz und Ursula Arni waren sich der Ungerechtigkeit der Reglemente wohl bewusst (für die sie nichts konnten) und demonstrierten dies mit einer ausserordentlichen Geste:
An der Siegerehrung, unmittelbar nach Erhalt des Schweizer Meister-Pokals, übergab Kurt Mandelz ihn an Jenö Havasy!
Was für ein Niveau, was für eine grossartige Sportlichkeit!
Das „Ausländerproblem“ wurde Anfang der 1970er-Jahre nach rund 13 Jahren Diskussionen gelöst.