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Walter & Marianne Kaiser-Bingel

TANZEN - UM DES TANZENS WILLEN


Femina, 6. November 1970, Nr. 23 (4 grosse Seiten)

Wo nicht mehr ganz Junge tanzen können, haben wir in der letzten Nummer ein wenig unter die Lupe genommen. Auch erklärt, wo und wie man tanzen lernen kann. Diesmal geht es uns um alle andern Spielarten des Tanzes, die von den Kleinen ebenso gut ausgeübt werden können wie von den Grossen, von den Dicken wie von den Dünnen, von den Begabten wie von den weniger Begabten... von allen, die Freude an der tänzerischen Bewegung haben.



WENN KINDER WIE ERWACHSENE TANZEN

CORINNE (9) und DOMINIQUE (7) sind im Augenblick das beste Kindertanzpaar der Schweiz (sie haben letztes Jahr die Europameisterschaft mit einem Paso Doble eröffnet). Corinne, die sich in ihrem weiten, türkisfarbenen Kleidchen mit Spitzenoberteil schon recht graziös bewegt, erklärt, dass sie "tanzen möchte wie Mami". Und Dominique echot strahlend: "Bei mir ist es genau gleich." Der Vater berichtigt nachher allerdings: "Turnen ist nicht gerade Dominiques Stärke. Wir fanden deshalb, Tanzen sei für ihn ein guter Ausgleich." Corinnes wie auch Dominiques Eltern tanzen beide Turnier. Die beiden Kinder üben nun schon mehr als ein Jahr lang zusammen. Manchmal sind sie etwas entmutigt, aber wenn sie dann zu Hause wieder Musik hören, lockt es sie, trotz aller Mühe, weiterzumachen.

Wo und wie Kinder tanzen lernen können:
WALTER UND MARIANNE KAISER haben in Dänemark, England, Schottland und Deutschland Kindertanzschulen kennengelernt und sich gewundert, mit wie viel Selbstverständlichkeit und Disziplin die Kinder dort tanzen lernen. Das brachte sie auf die Idee, das Kindertanzen auch in der Schweiz zu fördern. Dieses Jahr hat Marianne Kaiser mit den Kinder-Tanzkursen (1 Stunde pro Woche kostet im Monat Fr. 30.-) begonnen. Zu Beginn der Stunde werden die Kinder rhythmisch und gymnastisch geschult, im zweiten Teil werden ihnen die verschiedenen Tänze (vor allem Volkstänze, Polka usw.) beigebracht.

Kinder lernen relativ langsam, da sie die Schritte nicht mit dem Intellekt erfassen können, sondern rein gefühlsmässig aufnehmen müssen. Was sie hingegen auf diese Weise einmal adaptiert haben, vergessen sie viel weniger schnell als Erwachsene. Ziemlich schwierig ist es zudem, den Kindern die nötige Konzentration und Disziplin beizubringen, um so mehr, als das Tanzen für sie etwas Erfreuliches sein sollte, bei dem sie sich entspannen können. Eine gewisse Strenge lässt sich nicht vermeiden, wenn man Kindern etwas beibringen will.

Was zu bedenken wäre:
Die Kinder lernen in diesem Kurs zwar, sich nach der Musik zu bewegen und ihr rhythmisches und tänzerisches Gefühl zu entwickeln. Ihr Körper wird auch nicht so hart geschult und miteinbezogen wie beim Ballett. Fraglich ist nur, ob man Kindern Bewegungsabläufe beibringen soll, die von der Erotik zwischen Mann und Frau leben. Wäre es nicht wünschenswert, wenn man Kinder nach einem tänzerischen Ausdruck in sich selber suchen liesse, statt ihnen komplizierte Schrittkombinationen beizubringen, zu denen sie kaum eine innere Beziehung herstellen können?



MITTELSCHÜLER-TANZKURSE IMMER NOCH SEHR AKTUELL

GABY ist 17 Jahre alt, hübsch und selbstsicher. Früher hat sie nur Beat getanzt. Eines Tages fand sie, das genüge nun doch nicht ganz und entschloss sich, mit einer Freundin zusammen in den Tanzkurs zu gehen. Seither schwärmt sie für Tango und Rock.
BERNHARD, lang, dünn, schlacksig, "in", liess sich von der Tanzbegeisterung seiner Schwester anstecken. Bevor er die Tanzschule besuchte, hatte er nie getanzt, obwohl seine Mutter immer behauptete, er sei tänzerisch begabt. Heute spielt er bereits mit dem Gedanken, Turniertänzer zu werden. "Meiner Meinung nach gehört das Tanzen zu den gesellschaftlichen Verpflichtungen, die wir haben. Und ich finde es schade, dass sich so viele Junge damit begnügen, Beat zu tanzen." Die verträumte REGULA hat ihren ersten Tanzkurs schon mit vierzehn Jahren hinter sich gebracht. "Meine Eltern waren froh, dass ich mich fürs Tanzen begeistern konnte, da ich sonst überhaupt keinen Sport treibe." Seither tanzt sie jede Woche mindestens einmal auf einer privaten Party oder an einem "Klassenfez".
GIANNI wirkt ruhig und intelligent und gesteht, dass er sich bisher in den Ferien immer geärgert hatte, weil er nicht richtig tanzen konnte. Nun, da er es gelernt hat, findet er es phantastisch, dass er seine innere Zuneigung zur Musik auf diese Art und Weise äussern kann. Er tanzt hin und wieder ganz allein mit seiner Freundin zu Hause. "Ich weiss nicht, ob sich im Tanzen eine Zeit ausdrückt oder ob sich die Zeit im Tanzen ausdrückt. Ist es nicht faszinierend, wie sich heute der Mensch im modernen Tanz selber verwirklichen kann, wie er sich individuell ‚gestalten' kann, wenn er nicht mehr an die starren Vorschriften der Standardtänze gebunden ist?"

Wo Mittelschüler tanzen lernen können:
In jeder Stadt gibt es sicher mindestens eine Tanzschule, die Mittelschüler unterrichtet. Die Tanzschule Kaiser beispielsweise verlangt für zehn Lektionen siebzig Franken. Als erstes werden den Schülern die Grundschritte der Standardtänze beigebracht. Gleichzeitig macht man sie auch auf gewisse Anstandsregeln aufmerksam. Mit der Zeit lernen sie kompliziertere Figuren und Tänze. Am beliebtesten sind Jive und Cha-Cha-Cha, hin und wieder wird auch ein Wiener Walzer verlangt.

Viele der Jungen besuchen neben dem Tanzkurs auch die Samstagsparty der Tanzschule, wo sie das neu Erworbene anwenden können. HEINZ HORN, der den Mittelschülern das Tanzen beibringt, hat die Erfahrung gemacht, dass sich heute noch genau dieselben Jungen für den Tanzkurs anmelden wie früher: "der gute Durchschnitt. Sie sind zwar etwas moderner angezogen als früher, aber sonst..." Auch über ihre ersten Hemmungen müssen sich die Jungen heute genauso hinweg setzen lernen wie früher; das ergibt sich aber meist nach zwei bis drei Tanzstunden.

Was zu bedenken wäre:
Eigentlich nichts. In diesem Alter lernen die Jungen am leichtesten tanzen, fällt es ihnen noch nicht schwer, sich zu lösen und zu entspannen. Gleichzeitig lernen sie auch ein gewisses "savoir vivre" und gewinnen dadurch wieder mehr Sicherheit. Für sehr viele Junge bieten Tanzkurse auch eine gute Gelegenheit, nette Bekanntschaften zu machen (was vor allem den Eltern zu gefallen scheint...).



BEWEGUNGSSCHULE UND RHYTHMIK

CLAUDE ist Sekretärin und leidet oft unter Rückenschmerzen. Der Arzt hat ihr empfohlen, etwas für ihren Körper zu tun. Claude meldete sich in einer Bewegungsschule an und fühlt sich seither wesentlich besser.
In anderer Weise überlastet ist MARIANNE. Sie hat drei kleine Kinder und findet tagsüber kaum Zeit für sich. Seit sie nun einmal pro Woche am Abend in die Bewegungsschule geht, hat sie das Gefühl, wieder mehr leisten zu können.
Leichter hat es MIRIAM. Sie hat weder Kinder noch finanzielle Schwierigkeiten - nur langweilt sie sich manchmal ein bisschen. Aus diesem Grunde entschloss auch sie sich für eine "Bewegungstherapie".

Wo man sich "bewegen" lernt
Bewegungs- und Rhythmikschulen gibt es fast in jeder Stadt. Anmelden kann sich jedermann - auch ohne "Vorbildung". In Zürich führt beispielsweise TONI FLACH Kurse für Bewegung und Rhythmik durch. Eine Stunde sieht etwa folgendermassen aus: Laufübungen (ca. 10 Minuten). Stangenübungen (ca. 10 Minuten). Bodengymnastik (ca. 10 Min.) und Tanztechnik. Toni Flach macht selber jedes Jahr den Rhythmik-Trainingskurs des schweizerischen Tanzlehrerverbandes mit. Neuerdings möchte sie auch einen Bewegungskurs für Herren einführen, die diese Art von Entspannung genauso nötig haben.

Was zu bedenken wäre:
Jeder Mensch weiss, dass ihm "ein bisschen mehr Bewegung" sehr gut täte. Nur wenige bringen den starken Willen und die Initiative auf, täglich ein paar lösende, entspannende Übungen auszuführen. Für alle die Willensschwachen, die zudem beruflich noch stark angespannt sind, empfiehlt sich deshalb eine solche "Bewegungstherapie" in einer Bewegungsschule.



JAZZBALLETT - DAS "ZWISCHENDING"

BARBARA (22), verheiratet, wollte sich eigentlich zur Ballett-Tänzerin ausbilden lassen, fand dann aber, sie sei für diesen Beruf zu dick. Seit sie verheiratet ist, geht sie einmal in der Woche in den Jazz-Tanzkurs. Immer noch ein bisschen wehmütig blickt sie auf ihre Ballett-Vergangenheit zurück. "Wenn ich könnte, würde ich heute noch lieber klassisches Ballett tanzen."
HANS ist 32 Jahre alt, kaufmännischer Angestellter. Früher nahm er an Tanzturnieren teil. Aber dann heiratete seine Partnerin. Seither tanzt er allein: Jazz. "Leider trainiere ich zu Hause selten, weil ich mich nicht gerne anstrenge, wenn niemand brüllt".
KATJA ist eine Professional - sie kommt vom Dance Centre Covent Garden in London und versucht, während ihrer Ferien in Zürich im Training zu bleiben. Obwohl Katja niemals auf das klassische Ballett verzichten möchte, sieht sie ihre eigene und die Zukunft des Tanzes überhaupt nur im Jazzballett.

Wo Jazzballett unterrichtet wird:
Leider gibt es in der Schweiz noch relativ wenig gute Jazzballett-Schulen. Zu den beliebtesten Tanzlehrerinnen gehört die junge DAISY STÜRM (23), die gleichzeitig in Zürich und in Bern unterrichtet. Sie wuchs buchstäblich "tanzend" auf; schon ihre Mutter war Tanzlehrerin. Mit 17 Jahren unterrichtete sie bereits ihre erste Klasse. Lange Zeit war sie Schülerin von Alain Bernard. Mit sehr viel Charme, Temperament und "Berner Unverfrorenheit" versteht sie es, ihre Schülerinnen und Schüler mitzureissen. Ihre Kurse besuchen vor allem Mädchen und Frauen zwischen 17 bis 40 Jahren (wenig Männer), die nicht gerade in einen Turnverein gehen wollen, denen aber klassisches Ballett zu streng und zu zielgerichtet ist. Die Klassen teilen sich auf in Anfänger (Exercice nach dem klassischen Aufbau, Körperbewusstsein). Mittlere (eine halbe Stunde Exercice, einfache, rhythmische Übungen, kleinere Schrittkombinationen) und Fortgeschrittene (reiner Jazztanz: um in dieser Klasse mitmachen zu können, sind mindestens drei Jahre klassische Ballett-Grundausbildung erforderlich).

Daisy Stürm bildet prinzipiell keine Berufstänzer aus, da vorläufig kein Theater Tänzer ohne klassische Ballettausbildung engagiert. Was die junge Tanzlehrerin oft bedauert: "Den meisten Schweizern fehlt das sogenannte 'Jazz-Feeling', sie haben das 'Gspüri' einfach nicht, weder für den Rhythmus noch für die Bewegung."

Modern Jazz and Musical Dance unterrichtet in Zürich auch HELMUT VETTER an seiner Tanzschule. Wobei er sich aber in erster Linie auf die Ausbildung von Berufsschülern konzentriert. Helmut Vetter ist im Moment dabei, eine Ausbildungsstätte für Musicaltanz zu schaffen, wie es bisher im deutschsprachigen Gebiet überhaupt noch keine gibt.

Was zu bedenken wäre:
In Amerika ist das Jazzballett schon lange sehr hoch entwickelt. Immer mehr beginnt man sich auch in unseren Breitengraden dafür zu erwärmen. Allerdings liegt diese Tanzform nur wenigen Eidgenossen; sie wirkt dort komisch, wo sie zum reinen Turnübungsersatz wird.



GESELLSCHAFTSTÄNZE DIE NICHT JEDER LERNT

STEPPTANZ

BEAT ist kaufmännischer Lehrling und hat bereits einen Anfängerkurs, einen Kurs für Fortgeschrittene und einen Turnier-Tanzkurs hinter sich gebracht. Stepptanzen lernt er, "um unter Menschen zu sein, und weil ich später vielleicht einmal auftreten möchte". Zu Hause üben kann er allerdings nicht, mit den Metallplättchen an den Schuhen würde er da viel zu viel Lärm machen. LILO sah einmal im Fernsehen eine Stepptanz-Vorführung, hat sich dafür sofort begeistert und sich bei nächster Gelegenheit angemeldet. Sie möchte gern einmal in einer Tanzgruppe auftreten. FRANZ ist bereits schon einmal öffentlich aufgetreten, neben den Stepptanzkursen nimmt er Unterricht in Jazzballett, klassischem Ballett und Gesang. Er möchte ins Showbusiness einsteigen.

HEINZ HORN bringt an der Tanzschule Kaiser Studenten und Schülern für Fr. 25.-, Erwachsenen für Fr. 30.- im Monat (pro Woche eine Lektion) das Stepptanzen bei. Jedermann kann sich für diesen Kurs anmelden. Vorbildung braucht man keine. Stepptanz ist eine reine Übungssache. Aus begabteren Tänzern werden oft Gruppen gebildet, die öffentlich auftreten.

TURNIERTANZEN

HEINZ WERMELINGER ist 25 Jahre alt, kaufmännischer Angestellter und steht in der Schweiz als Turniertänzer ungefähr an fünfter Stelle. MADELEINE BETSCHARD - seine dritte Partnerin - hat früher schon mit guten Partnern Turniere getanzt, aber noch nie unter Leitung eines Trainers. Während Madeleine schon als Kind tanzte, galt Heinz früher als "Bewegungsidiot", weshalb er beschloss, einmal die normalen Standardtänze zu lernen. Dabei hatte er soviel Spass, dass er weitermachte. Turniertanzen ist in der Schweiz vorläufig noch eine ziemlich kostspielige Angelegenheit, da es nicht als Sportart anerkannt wird. Die Unterrichtsstunden (ungefähr drei in der Woche) müssen die Tänzer selbst bezahlen (Fr.30.- pro Stunde). Hingegen stellt ihnen ihr Club (Akademischer Tanzclub) für die Trainingsstunden einen Tanzraum gratis zur Verfügung.

Madeleine und Heinz werden von WALTER KAISER persönlich trainiert. Der Chef der Tanzschule Kaiser war 1965 Europameister und Weltmeister und schlug als erster Ausländer an den britischen Meisterschaften dreimal die Engländer.

Gegenwärtig nehmen in der Schweiz sehr wenig Paare aktiv am Turniertanzen teil. Zwei bis drei gute Paare halten sich jedoch immer an der Spitze und schneiden auch international gut ab. Idealalter, um mit dem Turniertanzen zu beginnen: 17. Voraussetzungen: sehr viel Wille und tänzerische Begabung. Gutes Aussehen ist nicht notwendig, aber sehr nützlich, besonders im Ausland.

Was zu bedenken wäre:
Bei allen speziellen Formen des Gesellschaftstanzes hat der "Normalverbraucher" kaum jemand die Möglichkeit, das Gelernte anzuwenden. Was er lernt - um des Tanzens willen - , vergisst er deshalb wahrscheinlich bald wieder. Für den Moment aber übt er eine ziemlich sportliche Tätigkeit aus, bei der er sich zugleich lösen und entspannen kann. Da er in Gruppen tanzt und übt, lernt er auch gleichgesinnte Leute kennen.



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